Sturm am Murtensee
Ein Royal-Enfield-Angel-Trip in die Westschweiz

Wieviel Wind braucht es, um einen Motorradhelm ins Wasser zu wehen? Die Frage geht mir nur kurz durch den Kopf, dann renne ich meinem nagelneuen Shoei hinterher. Von einer orkanartigen Böe gepackt, rollt der über den Boden. In der einen Hand halte ich die ausgeworfene Angel, die sich im Wind biegt. In der anderen meine Tasche. Den Helm habe ich nach ein paar Schritten eingeholt und kauere mich über ihn. Es hätte mich sehr geärgert, wenn der gute Kopfschutz in den Fluten Murtensee untergegangen wäre.

Ich befinde mich auf einem Steg für Kursschiffe. Das Wasser des Sees ist aufgepeitscht und die Szenerie hat etwas bedrohliches. Eigentlich hätte ich gewarnt sein müssen, denn das Sturmlicht der Anlegestelle blinkte schon seit geraumer Zeit. Die Schiffsführer wissen, dass die thermischen Fallwinde des Juras tückisch sind. Sie beobachten genau, ob sich an den Wipfeln des Gebirges Wolken auftürmen. Ist das der Fall, heißt es schnell den Hafen anlaufen. Der See ist wenig tief und die Ufer laufen relativ flach ab. Das Wasser kann also bei Wind sehr unruhig werden. Gut also, dass ich keinen Bootsverleiher gefunden habe, denn eigentlich wollte ich im See Hechte jagen.

Nach dem der Wind nachlässt, setze ich mir den Helm auf den Kopf. Angeln mit Helm ist zwar ungewöhnlich, hat aber zwei entscheidende Vorteile. Zum einen wird der Kopfschutz nicht mehr weggeweht und zum anderen ist mein Haupt vor dem Nieselregen geschützt. Der hat nun eingesetzt und perlt an meiner Wachsjacke ab. Unten im kristallklaren Wasser schwimmen riesige Karpfen und ignorieren meine Köder. Den Tieren scheint es im April noch zu kalt zu sein, um anzubeissen. Ihr Stoffwechsel braucht eine gewisse Aussentemperatur, damit sie die Nahrung verarbeiten können. Fische sind halt Kaltblüter und den Launen der Umgebungstemperatur ausgeliefert. Ich sollte einen gigantischen Tauchsieder verwenden, um die Beisslust der Tiere zu stimulieren. Aber ich glaube, als Hilfsmittel beim Fischen ist so etwas verboten.
Also muss ich ohne einen Fang in die Unterkunft zurückfahren. Dort wird meine Frau mein Anglerglück mit leichtem Spott kommentieren. Was soll’s. Immerhin dürfen sich die Karpfen weiter ihres Lebens freuen und ich freue mich auch. Es regnet nämlich nicht mehr und auch der Wind hat sich gelegt. Im Sattel meiner Royal Enfield sitzend, lasse ich die Landschaft an mir vorbeiziehen. Ich fahre durch kleine Ortschaften, die französischen Charme ausstrahlen. Die Strasse glänzt feucht im Abendlicht und es bereitet mir eine kindliche Freude, wenn es beim Durchfahren der Pfützen so richtig spritzt. Die Stimmung wäre perfekt, wenn da nicht dieses leichte Frösteln wäre. Dummerweise ist meine Motorradjacke viel zu dünn für diese kalten Frühlingstage. Mit der Wahl dieses Kleidungsstücks war ich vielleicht ein wenig zu optimistisch. Auf der Fahrt in die Westschweiz hatte ich mir darin die Seele aus dem Leib gefroren. Allerdings ist das ein Umstand, der bei meinem Übergewicht nicht nur schlecht ist. Denn im Gegensatz zu den Karpfen, produziere ich als Warmblüter meine Körpertemperatur selbst. Vor allem bei Kälte ist das ein energieaufwendige Angelegenheit. Energie, die ich mir nun in Form von kalorienreichen Köstlichkeiten genussvoll wieder zuführen darf. So habe ich dank dem Frieren die Lizenz zur Völlerei und der werde ich nun frönen. Die Kalorienzufuhr wird im Rahmen eines fürstlichen Abendessens im Schloss Münchenwiler stattfinden.

In diesem Schloss haben wir uns auch einquartiert. Nicht in der mondänen Turmsuite, sondern in den zu Appartements ausgebauten Stallungen. Aber die sind auch nicht schlecht. In der Regel mag ich es ja lieber rustikal und gutbürgerlich, aber diesmal leisten wir uns diese Dekadenz. Es sind die ersten Ferien mit unseren beiden Royal Enfield Motorrädern und das wollen wir würdig zelebrieren. Ein Schloss als Unterkunft scheint da dem königlichen Fahrzeugnahmen durchaus angemessen.

Allerdings nur auf den ersten Blick. Der Namenszusatz „Royal“ geht auf die Verbindung der Motorradfabrik mit der britischen Waffenindustrie zurück. (1) Royal Enfields erfolgreiches Motorradmodell Bullet hatte also nicht direkt etwas mit dem Glamour der Aristokratie zu tun. Im Gegenteil. Es wurde als kostengünstiges Fahrzeug für die Workingclass konzipiert. Die Arbeiter sollten damit pünktlich zu den Fabriken kommen, damit die britische Oberschicht von deren Arbeitsleistung profitieren konnten. Später diente das Motorrad als billiges Mobilisationsmittel. Erst für das Militär des Vereinigten Königreiches, dann für die indischen Truppen im Kaschmirkonflikt (2). Danach fungierte es als Autoersatz für den indischen Mittelstand und heute ist es unter anderem ein Freizeitfahrzeug für den europäischen Mittelstand.

Aber auch für ein Motorrad mit proletarischem Wurzeln bietet Schloss Münchenwiler ein beeindruckendes Ambiente. Ein wenig komme ich mir damit vor, als dürfte ich auf Downton Abbey nur den Dienstboteneingang benutzen. Gut also, dass sich die Zeiten geändert haben. So schreiten wir in freudiger Erwartung durch den Haupteingang. Dort erwartet uns gehobene helvetisch-französische Gastronomie. Mein Frieren hatte sich durchaus gelohnt. Ich darf nun ohne Reue zuschlagen. Die Spargelcremesuppe ist himmlisch, der Salat vortrefflich und der Fisch schmeckt köstlich. Einziger Wermutstropfen ist der Umstand, dass ich den Fisch nicht selbst gefangen habe. Wie erwartet, zieht mich meine Frau damit auf. Ich lasse sie spotten. Der Wein und das Dessert munden mir nämlich vortrefflich. Das macht mich sanftmütig und entschädigt mich voll und ganz für mein Angelpech. Als Abschluss einen Espresso und das Glück ist perfekt. Zum Verdauen machen wir noch ein paar Schritte zwischen den alten Gemäuern. Wir geniessen den Abend.

Das Schloss Münchenwiler hat eine bewegte Geschichte. Ursprünglich war es ein mittelalterliches Koster, im Krieg zerstört, dann wiederaufgebaut und im Zuge der Reformation an eine reiche Familie verkauft. Die liess es abreissen und baute sich aus den Steinen ein Schloss. Die Schlossherren wechselten, bis der letzte Besitzer bankrott war. Der Kanton renovierte dann das marode Gebäude und heute betreibt eine GmbH dort Hotel und Restaurant. Wer weiss, wem die gehört. Das Essen ist auf jeden Fall gut und die Mitarbeitenden des Hauses sind freundlich und zuvorkommend. Das Apartment, das wir bewohnen, ist modern renoviert. Trotzdem weht der Scharm der Vergangenheit durch die Räume. Es ist gemütlich.

Am nächsten Tag machen wir eine Motorradtour, um die Umgebung zu erkunden. Leider gibt es keine Routenempfehlungen von Motorrad & Touren. Also müssen wir selbst planen. Wir verschaffen und einen groben Überblick über alle die kleinen Strassen zwischen Murten- und Bielersee und fahren immer der Nase nach. Zu einem Navigationssystem haben wir uns noch nicht durchringen können. Das mit der Nase stimmt nicht ganz. Meine Frau fährt ihrer Nase nach und ich versuche hinterher zu kommen. Sie ist mit ihrer Royal Enfield Classic eher sportlich unterwegs. Meistens muss sie irgendwo auf mich warten. In ihrem Blick liegt dann die Frage: „Dir ist schon klar, dass das ein Motorrad und kein Rollator ist?“ Wahrscheinlich aber bilde ich mir das nur ein, denn die Botschaft macht ja bekanntlich der Empfänger.

Die Tour ist schön. Wir rollen über wenig befahrene Strassen und geniessen eine Landschaft, die von sanften Hügeln, Wald, Feldern und kleinen Dörfern geprägt ist. Die Straßen sind perfekt für eine Royal Enfield Ausfahrt.

Zurück im Schloss rüste ich mich nochmals für eine Angeltour und ich fange wieder nichts. Dafür ist das Wetter besser. Kein Regen und kein Sturm. Während ich den Karpfen nachstelle, vergesse ich die Zeit. Zu spät mache ich mich auf den Rückweg.

Am Schloss angekommen steht vor dem Appartement die „Lady“. Insgeheim nenne ich so die chromblitzende Enfield meiner Frau. Das Motorrad blickt mich mit seinen Ochsenaugen böse an. Kein gutes Omen. Von meiner Frau ist weit und breit keine Spur zu sehen. Sie wird drüben im Restaurant auf mich warten. Also schnell eine, dem Gourmet-Tempel angemessene Garderobe wählen und von den Stallungen ins Schloss hinübereilen.

Vor ihrem Tisch stehend, schenke ich ihr mein schönstes Lächeln und ein durchaus galantes Kompliment. Sie schaut mir nicht in die Augen. Missmutig blickt sie auf meinem Schritt.
„Deine Hose ist offen“, verkündet sie in einer Lautstärke, dass auch die Nachbartische über diesen Umstand informiert sind. Die Damen, die an den Tischen links und rechts sitzen, vermeiden es erfolgreich hinzuschauen. Ich überlege einen Moment, wie ich mit der peinlichen Situation umgehen soll, dann erwiderte ich sonnig, dass diese verflixten Dinger immer wieder mal auf gehen und ich bei Gelegenheit googlen werde, was man dagegen so tun kann. Mit diesem Versprechen schließe ich den Reisverschluss und setze mich.

„Deine Reisverschlüsse gehen nicht auf. Du machst sie erst gar nicht zu“, unkt meine Frau. Als sie mir auch noch vorwirft, dass ich das tue, weil es mir egal ist, wie ich aussehe, wenn ich mit ihr ausgehe, weiss ich, dass ich verloren habe. Ein wenig rede ich mich noch um Kopf und Kragen, dann bricht ein Wortorkan über mich herein. Die Windböen am Murtensee waren nichts dagegen. Hätte ich meinen Helm dabeigehabt, wäre der in diesem Beziehungssturm nicht nur gerollt, sondern quer durchs Lokal geflogen.

Meine Frau hat ja recht – zumindest teilweise. Seit ich mich als Freizeit-Blogger betätige, bin ich mit den Gedanken oft wo anders. Das Ergebnis sind dann falsch zugeknöpfte Hemden und offene Reisverschlüsse. Der Oberhammer war ein Arztbesuch, bei dem ich die Unterhose verkehrtherum getragen hatte. Mein Gott war mir das unangenehm.

Ich werde mich also mit dieser Sache auseinandersetzen müssen – irgendwann. Aber nicht hier in dem Restaurant. Also stelle ich meine Ohren auf Durchzug und widme mich ganz dem leckeren Essen. Morgen versuche ich dann mit geschlossen Hosenreisverschlüssen zu glänzen. Vieleicht hat sich bis dahin der Sturm gelegt.

Das mit Glänzen gelingt nicht ganz, denn bei meiner Abfahrt stehe ich dann ganz ohne Hosen da. Alle meine Kleider sind im Seesack verpackt und die Motorradhose ist mir beim Packen einfach zu unbequem. Ich habe also ein logistisches Problem. Meine Frau trägt es mit Fassung: Besser keine, als eine offene Hose.

Anmerkung

Routentipps
Wer die Westschweizer Seelandschaft mit der Enfield erkunden will, hält sich am besten an die allgemeinen Reiseempfehlungen von Gypsy Chimp. Seine Angaben zu den Tageslimiten beziehen sich aber auf moderne Motorräder. Mit einer Royal Enfield wird man gut die Hälfte der angegeben Kilometer schaffen.
Empfehlungen für den Genfersee und Pässeempfehlungen für die Region findet man bei Motorrad & Touren. Hier gibt es auch allgemeine Informationen für Motorradreisende in der Schweiz.

Das Motorrad als Mobilisationsmittel für dem glücklosen schweizer Hechtjäger, der versucht ist den Dienstboteneingang zu benutzen, während er es in Gedanken beim Durchfahren der Pfützen so richtig spritzen lässt. You made my day 🙂
Vielen Dank für die schöne Rückmeldung. Ich freue mich sehr darüber.
Herzliche Grüsse
Thomas
Ein sensationeller Blog!! Und eine äusserst coole Story – Kompliment! 😉
Vielen Dank für das schöne Kompliment.
Ich lese mit Begeisterung Motorprosa • Geschichten aus der Kurve
https://theiner.net/blog/
Da hast du auch einen tollen Blog mit schönen Geschichten und super Fotos.
Herzliche Grüsse
Thomas
Hallo Thomas
Wie immer ein toll geschriebener Beitrag.
Kompliment.
Viele Grüsse
Dominique
Hallo Thomas,
endlich habe ich mich mal aufgerafft (bei der großen Hitze…) und diesen schönen Blogeintrag lachend, schmunzelnd und mitfühlend gelesen. Sehr fein. 🙂
Ja unsere Frauen….. (Du bist nicht alleine, hab ich gedacht 🙂 ))) ) also meine Frau ist zumindest stets begeistert vom Fahren im Beiboot. (wenn sie dann mal mitfährt)
Egal wie schnell oder langsam ich gerade rumknattere.
Mein Vorteil, NOCH hat sie keinen A-Führerschein.
Deine Frau ein Motorradraser, oh ha.
Hätte bei deiner Motorradvergangenheit eher anderes vermutet.
Hmm… nun ja, wir Männer werden halt mit dem Alter doch wieder ruhiger ……. 😉 Meistens jedenfalls. 🙂 )))
Die letzte Zeit ertappe ich mich doch hin u. wieder, dass ich etwas übermütig werde u. das Gespann bis zur Grenze der gesetzteskonformen 110 km/h beschleunige….. zumindest kurzzeitig, um dann wieder schnell ins angenehme Bullet Mantra von etwa 80 km/h gaanz entspannt weiterzuknattern.
Auf Nebenstrecken tuckere ich aber auch gerne mit 60-70 rum.
Je nach Streckentyp.
Das ist doch einfach ein wahrhaft schönes Motorradwandertempo ohne Hast u. Hetze.
Angeln…… hmmm ? Ist nicht ganz so meins, die Geduld hab ich vermutlich nicht als Zwilling, müsste das mal zumindest testen.
So, jetzt werd ich erst mal mal deine schönen u. interessanten Ausflugtipps durchackern….. Die Bilder im Blog sind übrigens erste Sahne. Danke.
Lg vom Mann mit dem RE-Gespann,
Edi
Herzlichen Dank für die Rückmeldung, lieber Edi. Ich freue mich von dir zu lesen. Bei welcher Geschwindigkeit (ab 70 km/h) fährt dein Gespann am ruhigsten?
Hallo Thomas,
am schönsten ist es bei 78 / 79 km/h ganz kurz vor 80 km/h.
Da hör ich selbst das getickere des Autodeko Mechanismus überhaupt nicht.
Bei 90 km/h ist es aber auch noch absolut angenehm, kaum Vibrationen.
Fahre jetzt seit gut 600 km eine 530 DID Standard Kette (Clip Schloss).
Seit dem bin ich sehr zufrieden, meine läuft seit dem sehr sehr smooth. (Km-Stand: 4.500 km)
Wenn deine auch gefühlt rappelig läuft, muss wohl ne neue Kette drauf.
Würde Dir auch dann zu einer Standard Clip Schloss Kette von DID raten (OHNE O-Ringe). 530’iger Teilung, 102 Glieder.
Mein Kettensprühfett ist von HKS CZECH, das zur Zeit beste auf dem Markt meiner Meinung nach.
Nachschmieren solltest Du (oder die Werkstatt) aber auch sehr regelmäßig. Ich mache das alle 500 km.
Nach 1 Jahr kommt vor der neuen Saison wieder ne neue Kette drauf. Die DID kostet auch nur 27,72 EUR.
Da kann man sich doch leicht von der Kette nach einem Jahr trennen. 🙂 (ich mache das natürlich selber)
Lg aus Donaueschingen u. Euch ein schönes WE,
Edi