Voll die Seuche

Erinnerung an eine letzte Fahrt mit dem Motorrad. Eine letzte Fahrt, bevor sich die Schweiz veränderte. Erinnerungen an den Frühling 2020. Einen Frühling, den ich grösstenteils im Haus verbrachte. Erinnerungen an meine erste Motorradrunde nach dem Lockdown. Eine kleine Tour in einer Schweiz in der nun vieles anders ist.

Die dunkelhäutige Schönheit an der Tankstellenkasse hat das Potenzial Sehnsüchte zu wecken. Aber leider bin ich ein alter Sack. Und mit Mitte Zwanzig ist die Dame viel zu jung für mich. Bei dem dynamischen Kerl, der gross und breit vor mir steht, liegt die Sache anders. Er dürfte sich in ihrer Alterskategorie befinden. Zudem sieht er mit seinen Muskeln und den ebenmässigen Gesichtszügen ziemlich gut aus. Dafür ist mein Motorrad schöner als sein hochgetuntes Auto. Das Fahrzeug, das seinen Besitzer als Mitglied der Raser-Szene ausweist, wurde in einem matten Grau lackiert. Es ist eine Farbe von der man nicht weiss, ob es die Grundierung oder das Endprodukt sein soll. Stosstangen, Heckspoiler und Spiegel stehen dazu in einem krassen Kontrast. Diese Teile leuchten in aggressivem Rot. Ein Rot, das den Fahrstil des Mannes symbolisiert. Denn um ein Haar hätte er mich mit seinem Auto von der Strasse gefegt. Der Fahrer hat wohl ein Faible für riskante Überholmanöver. Aber ich bin nicht nachtragend. Der Bursche ist jung, übermütig und voll im Saft. Ich hingegen bin alt, behäbig und fahre eine Royal Enfield Classic. Ausserdem trage ich eine Leuchtweste. In seiner Wahrnehmung bin ich ein fahrendes Verkehrshindernis.

Jetzt befinde ich mich hinter ihm an dieser Tankstellenkasse und er ist für mich ein stehendes Verkehrshindernis. Der junge Mann schäkert nun schon sehr ausdauernd mit der Tankstellennymphe. Die kokettiert hinter dem Tresen und himmelt ihn an. Ich würde gerne meine Tankfüllung bezahlen, aber beide ignorieren mich gekonnt. Also versuche ich mich dezent bemerkbar zu machen. Mit erhobenem Arm luge ich hinter dem Schönling hervor. Freundlich winke ich dabei der Frau an der Kasse zu. Die beachtet mich immer noch nicht. Ihre Augen hängen an den Lippen von dem Kerl. Der raspelt in einem jugo-schweizerischen Slang Süssholz. Die Frau kichert und ich werde langsam ungeduldig. Die Titel der Zeitschriften, die an der Kasse ausliegen habe ich mittlerweile alle gelesen: Hiobsbotschaften aus Norditalien. Dort grassiert ein grippeähnliches und tödliches Virus. Ich verdränge diese Nachrichten und versuche mich verbal bemerkbar zu machen: „Entschuldigung, ich würde gerne zahlen.“ Meine Worte, höflich und in Zimmerlautstärke vorgetragen bleiben ungehört. Die junge Frau hat nur Ohren für den Tuning- Fetischisten. Der schiebt sich jetzt demonstrativ vor meine Nase und ich atme den Duft von billigem Duschgel ein.

Ich werde ungeduldiger. Wenn ich hier an der Tankstelle nicht Wurzeln schlagen will, muss ich massiver auf mich aufmerksam machen. Am besten in einer Form ohne dass mir der Testosteron-Bolzen eins aufs Maul gibt. Junge Männer seines Schlages sind nicht ganz ungefährlich. Vor allem wenn man sie beim Balz-Tanz stört. Also niese ich laut und huste herzhaft in seinen Rücken. Dabei mache ich besonders eklige Röchelgeräusche. Das fällt mir nicht sonderlich schwer. Denn auf dem Motorrad habe ich mich ein wenig verkühlt. Der junge Mann tritt misstrauisch bei Seite und fixiert mich mit bedrohlich zusammengekniffenen Augen. Ich lächele den bösen Blick weg und erkläre sonnig: „Scheiss Erkältung. Aber ansonsten war Mailand echt geil.“

Die beiden schauen mich an als hätten sie es mit einem Aussätzigen zu tun. Einen Aussätzigen, der gerade einen Finger auf dem Fussboden verloren hat. Ich ignoriere das und wende mich der dunkelhäutigen Schönheit zu. Auch ihr schenke ich ein gewinnendes Lächeln. Dabei denke ich mir, dass das die Rache des alten weissen Mannes ist. Des Mannes, den sie einfach nicht bedienen will.

Jetzt aber geht es ganz schnell. Der Tuningheld hat sich hinter ein Lebensmittelregal verschanzt und die junge Frau fertigt mich in Rekordzeit ab. Gut gelaunt verlasse ich den Laden und die Blicke der beiden verfolgen mich durch die Scheiben. Ich steige auf mein Motorrad und fahre lachend nach Hause.

Im Nachhinein betrachtet war das ein sehr schlechter Scherz. Ja, geradezu eine kleine Bosheit und die bestraft der liebe Gott bekanntlich sofort. In meinem Fall aber lässt er sich Zeit. Dafür kommt seine Strafe hart und das Lachen wird mir gründlich vergehen.

Noch ist Italien weit weg und als Schweizer ist mir klar, dass jeder Virus unsere Neutralität respektieren wird. Natürlich ist das keine logische Annahme. Es ist mehr so ein Gefühl. Ich kann mir in der wohl geordneten und perfekt organisierten Schweiz keine Seuche und keine Katastrophen vorstellen. Ich bin zwar nur eingebürgert, aber mit Stolz gehöre ich zu einem Volk, das selbst bei der Apokalypse des Johannes diszipliniert an der Migros-Kasse ansteht.  

Die Gewissheit, dass Viren die Schweizer Neutralität respektieren, beginnt in den nächsten Tagen zu bröckeln. Medien und Politik bereiten die Bevölkerung auf eine schreckliche Pandemie vor. Noch behauptet ein Herr Koch vom Schweizerischen Bundesamt für Gesundheit, dass die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel absolut ungefährlich ist und so sitze ich in einem Bus und fahre zur Arbeit. Eine alte, schwergewichtige Dame hat mir gegenüber platzgenommen. Ihre Nase läuft und Sie hustet am laufenden Band. Just in diesem Moment, wo ich das Weite suchen will, wird sie von einem keuchhusten-artigen Anfall geschüttelt und verteilt viele Tröpfchen in meinem Gesicht. Danach krächzt sie noch etwas, was wie Exgüsi klingt und schnäuzt laut trompetend in ihr Taschentuch. So was ist mir noch nie passiert. Warum gerade jetzt? Ist das die Gottesstrafe für meinen bösen Scherz an der Tankstelle? Ich beschliesse meine irrationalen katholisch geprägten Gedanken zu verdrängen. Stattdessen wische ich mir Rotz und Sputum aus dem Gesicht und hoffe auf das Beste.

Vier Tage später spüre ich massive Halsschmerzen. Mittlerweile ist das Unglaubliche geschehen: Die Schweiz befindet sich im Ausnahmezustand. Die Schulen sind geschlossen und Fernunterricht ist das Gebot der Stunde. Als Spezialist für digitales Lernen bin ich nun ein gefragter Mann. Ich arbeite von früh bis spät und es tut mir gut in diesen Zeiten einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Wie so viele meiner Mitbürger befinde ich mich im Homeoffice. Dort arbeite ich umgeben von rauschenden Computern und anderem digitalem Gerät.

Leider spüre ich immer mehr grippeähnliche Symptome und ich fühle mich total schlapp. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und ein paar Tage auskurieren. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. In einer solchen Situation muss jeder den Hintern zusammenkneifen und seinen Beitrag leisten.

Wie jeden Abend gehe ich spät schlafen. Nach ein paar Stunden wache ich panisch auf. Ich bekomme kaum Luft und habe Angst zu ersticken. Es ist ein Gefühl als hätte mir jemand Beton in die Bronchien gegossen. Laut pfeifend krieche ich aus dem Bett und wühle im Medizinkästchen. Irgendwo muss doch noch so ein verdammtes Spray sein.

Mein letzter Asthmaanfall ist schon lange her und all die Jahre habe ich keine Medikamente gegen Atemnot gebraucht. Mit der Angst vor dem Ersticken verkrampfen sich auch meine Bronchien. Der Sauerstoffgehalt in meinem Blut dürfte jetzt in einem bedenklichen Bereich liegen. Dann finde ich die kleine Spraydose mit der Aufschrift Ventolin. Sie ist schon seit Ewigkeiten abgelaufen und ich hoffe, dass das Mittel trotzdem wirkt. Ich sauge den Stoff, so tief es geht in meine Lungen. Mehrere Sprühstösse und ich weiss, dass ich das Medikament überdosiere. Mein Herz rast, aber Hauptsache ich bekomme wieder Luft. Trotzdem fühlen sich die Atemwege rau und trocken an.

Ich hatte heute zu wenig getrunken und brauche dringend Flüssigkeit. Also schütte ich literweise Hustentee in mich hinein. Danach giesse ich mehrere heisse Zitronen und Ingwerwasser hinterher. Zwischen dem Trinken huste ich mir die Seele aus dem Leib. Irgendwo finde ich noch einen Beutel mit Acetylcystein und bin froh als ich endlich das lästige Sekret aus meinen Bronchien befördere. Der zähe grüne Schleim deutet auf einen Atemwegsinfekt hin.

Erschöpft versuche ich zu schlafen, wache aber immer wieder mit Luftnot auf. Dann geht das Prozedere von neuem los. Am Morgen telefoniere ich mit meinem Hausarzt. Der Verdacht einer Corona-Infektion liegt in der Luft. Ausser dem Fehlen des Fiebers deutet alles darauf hin. Mit erfrischender Offenheit versucht mich der Arzt aufzumuntern: „Bei ihren Vorerkrankungen und ihrer Konstitution wird das dann eine eher ungemütliche Angelegenheit.“ Lungenmässig verordnet er mir das grosse Gedeck. Eigentlich wollte ich mir ja zum Saisonstart eine coole Lederjacke kaufen. Stattdessen werde ich das Geld nun in einen leistungsstarken Inhalator investieren. Das frustriert mich und ich bin nicht der einzige Frustrierte in diesem Haushalt.

Haus und Herd teile ich mit meiner besten Freundin und die kann sich so gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ich unser Heim mit dem Coronavirus durchseuche. Vorsichtig ausgedrückt ist sie von der Situation ziemlich angepisst und geht mir aus dem Weg.

Ich fühle mich jetzt nicht nur kurzatmig, müde und erschöpft, sondern auch sehr, sehr einsam.

Trotz meiner schlechten körperlichen Verfassung arbeite ich viel. Das lenkt ab und gibt mir das Gefühl Herr der Lage zu sein. Ich habe es noch nie leiden können, wenn mich irgendwelche Mikroorganismen in die Knie zwingen wollten. Symbiose im Darm ist voll OK, aber wenn mir die kleinen Dinger das Leben schwer machen werde ich ziemlich ungemütlich. Leider kann ich damit weder Viren noch Bakterien beeindrucken.

Am Nachmittag bietet man mich zum Coronatest auf. Der Notfallarzt, der mich anruft, sagt ich solle die Beine unter den Arm nehmen und schnell zu ihm kommen, denn der letzte Kurier würde gleich die Proben abholen. Mein Hinweis, dass ich kurzatmig bin und ich mich ziemlich scheisse fühle, übergeht er geflissentlich.

Also mache ich mich auf den Weg. Ich bin versucht das Motorrad zu nehmen. Denn es ist mein einziges Fahrzeug. Aber ich lass das. Motorradfahren ist gefährlich und bei der knappen Anzahl von Intensivbetten, möchte ich keines davon belegen. Ausserdem hat die Polizei empfohlen, Motorräder in der Garage zu lassen. Als guter Schweizer folge ich dieser Empfehlung. Eine Mehrheit der Bevölkerung macht das und hier liegt auch der Grund, warum wir Schweizer mehr politische Freiheit und weniger Verbote haben, als das zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Italien der Fall ist. Ein hohes Mass an Verantwortung für das Allgemeinwohl ist eine feste Säule unserer Kultur.

Natürlich haben wir in der Schweiz auch Deppen und die Zweirad-Deppen-Fraktion kommt jetzt voll auf ihre Kosten. Die Strasse, die ich mich entlang schleppe, ist gespenstisch leer und das verleitet einige Idioten zum Rasen. Gerade brettert ein Motorrad mit überhöhter Geschwindigkeit an mir vorbei. Es ist eine japanische Rennsemmel, die im oberen Drehzahlbereich in Richtung Innenstadt kreischt. Der Fahrer geniesst nicht nur den Geschwindigkeitsrausch im Stadtgebiet, er hat wohl auch Freude daran den Anwohnern mit seinem Lärm auf den Sack zu gehen. Still wünsche ich ihm eine Polizeikontrolle an den Hals.

Die Sonne scheint und es ist richtig heiss heute. Für eine Pandemie mit Lockdown ist dieses Wetter nur suboptimal. Hier und da begegne ich Menschen, die es zu Hause nicht aushalten. Sie wollen die Sonne geniessen. Andere gehen zum Einkaufen und versuchen die letzten Klopapierrollen zu ergattern. Wie auch in Deutschland ist dieser Hygieneartikel knapp geworden. In Frankreich ist das mit dem Toilettenpapier kein Problem, da sind Rotwein und Kondome ausverkauft. Ja, so eine Seuche offenbart nationale Wertehierarchien. Und das unbarmherzig.

Mit einer Maske vor dem Mund signalisiere ich meinen Mitmenschen, dass man mir besser aus dem Weg geht. Leider fällt mir das Atmen unter der Maske schwer. Auch das schnelle Gehen tut mir nicht gut. Ich pfeife wie eine Dampflok als ich in der Arztpraxis ankomme.

Der Arzt trägt eine Art Ebola-Outfit und übergeht nonchalant meine Atemnot. Mit Schutzanzug und Spezialbrille verabreicht er mir eine Portion Händedesinfektionsmittel. Gut gelaunt stösst er mir dann einen Watteträger ins Nasenloch. Ich schreie auf, denn es fühlt sich an als würde er den langen Holzstab geradewegs in mein Hirn rammen. Beim anderen Nasenloch stösst er sogar noch tiefer vor. Ich keuche und stöhne im Behandlungsstuhl. „Tapfer“, kommentiert der Mediziner mit Sarkasmus und ich hätte ihm am liebsten gesagt, dass er mich am Arsch lecken kann. Aber, da ich unter Corona-Verdacht stehe, verzichte ich auf das unhygienische Angebot. Es gibt Situationen in denen man seine Mitmenschen nicht zum Naschen verführen darf. Stattdessen schlurfe ich zur Apotheke.

Die Polizisten des Kanton Zürich zeichnen sich durch Professionalität und Bürgernähe aus. Als Exekutive in einem Kanton mit Weltstadt sind ihnen keine menschlichen Abgründe fremd. Selbst auf einen Hannibal Lecter reagieren die Beamten hier sachlich, angemessen und stets besonnen.

Ich wollte immer schon mal wissen was es alles braucht um so einen Zürcher Gesetzeshüter aus der Ruhe zu bringen. Heute erfahre ich es.

Der Beamte, der die Apotheke im Auge behält, ist sichtlich nervös. Für die aufgebrachten Kunden davor ist die Situation ungewohnt. Die werden nämlich an der Tür bedient. Niemand darf den Laden betreten. Vier junge Männer streiten mit der Apothekerin. Sie wollen ein Hustenmittel mit schön viel Kodein, haben aber kein Rezept.

Ich warte im sicheren Abstand bis die erregten Herrn ohne Kodein abziehen. Das machen die, nach dem sie der Polizist zur Ordnung gerufen hat.

Es ist der Anfang der Pandemie in der Schweiz. Das Maskentragen im Freien gehört noch nicht zum gewohnten Strassenbild. Mit meinem Mundschutz bin ich sozusagen Trendsetter. Die Menschen reagieren auf mich mit Misstrauen. Vor allem, weil ich ständig unter der Maske huste.

Der Polizist mustert mich skeptisch. Sein Umgang mit Seuchen wurde wahrscheinlich schon in jungen Jahren durch Zombie-Filme geprägt. Eine Hand schwebt nervös über dem Pfefferspray. Die Dose steckt in einem martialisch vollgepackten Gürtel. In seiner finsteren Mimik spiegelt sich die Erkenntnis, dass man COVID-Erkrankte am einfachsten mit einer abgesägten Schrottflinte ins Jenseits schickt. So verhindert man, dass die COVID-Zombies andere beissen und das Virus weitergeben. Leider lassen die Dienstvorschriften eine solche Vorgehensweise nicht zu. Statt der abgesägten Schrottflinte müsste der Polizist auf sein Spray zurückgreifen. Und ich bin mir sicher, dass er das bedauert.

Da ein Ladung Pfefferspray, meine pulmonale Situation nicht grundlegend verbessern würde, sollte ich den Beamten davon überzeugen, dass von mir keine Gefahr ausgeht.

Unsicher lächele ich ihn an. Denn Freundlichkeit ist das Einzige, was ich seinem Pfefferspray entgegensetzen kann. Leider bleibt mein Lächeln unter der Maske verborgen. Und mit Unbehagen registriere ich wie der Gesetzeshüter jede meiner Bewegung beobachtet.

Ich verstehe ja den Unmut und das Misstrauen des Polizisten. Ich finde es auch scheisse, dass ich in diesem desolaten Zustand durch die Gegend laufe. Aber der Arzt hatte meine Bitte um einen Hausbesuch kategorisch abgelehnt. Ja, er hat mich regelrecht in seine Praxis zitiert. Und Medikamente wollte mir auch niemand liefern. Die Apotheke bestand darauf, dass ich vorbeikomme.

Das Rezept hatte ich der Apotheke per E-Mail zugesandt. Es dauerte eine Ewigkeit bis ich auf der Webseite, zwischen all der Werbung eine E-Mail-Adresse fand. Und hätte ich die Möglichkeit gehabt, so hätte ich den Web-Designer dieser Seite mit Pfefferspray attackiert.

Die Apothekerin, die mich an der Tür bedient, erklärt mir, dass sie keine E-Mail von mir erhalten habe. Ich zücke mein iPhone und schicke ihr das Rezept nochmals. Dann bitte ich sie in den Spam-Ordner zu schauen. Aber auch dort ist nichts zu finden. Nun lese ich der Frau die E-Mail-Adresse vor. Vielleicht habe ich mich ja verschrieben. Aber das ist nicht der Fall. Trotzdem schaut mich die Apothekerin tadelnd an.

„Diese E-Mail-Adresse ist nur für die Bestellung und die Beratung bezüglich unserer Kosmetikprodukte da.“

Die Erklärung erfolgt im belehrenden Tonfall. Ich frage, wo denn die richtige E-Mail-Adresse zu finden ist. Die Antwort bleibt mir die Apothekerin schuldig, denn der Polizist mischt sich ein.

Seine Hand liegt gefährlich nah am Pfefferspray. Eindringlich fragt er die Apothekerin, ob ich Probleme mache. Die Apothekerin verneint lächelnd. Sie ist attraktiv und mein Wohlergehen liegt nun ganz in ihren Händen. Die Attraktivität der Frau ist auch dem Polizisten nicht entgangen und er versichert ihr, dass er mich umgehend entferne, wenn ich sie belästigen würde.

Hier sehe ich mich nun genötigt, dem Vertreter der Staatsmacht eine Erklärung abzugeben. Ich versichere dem Herrn in Uniform, dass alles in Ordnung sei, aber der beachtet mich gar nicht. Mit potenziellen Zombies scheint er grundsätzlich nicht zu reden.

Ich seufze tief und begreife, dass der Beruf des Polizisten eigentlich ein Frauenberuf sein sollte. Frauen haben weniger Testosteron und reagieren besonnener. Sie verspüren deutlich weniger das Verlangen, attraktive Apothekerinnen zu beeindrucken. Vor allem schauen sie weniger Zombie-Filme. Und wenn sie mal einen sehen, dann haben sie genügend Medienkompetenz, um zu erkennen, dass polizeiliche Instruktionsfilme ein völlig anderes Genre sind.

Die Apothekerin erklärt nun im bestimmten Ton, dass alles in Ordnung sei. Anscheinend ist auch ihr der Beschützer-Instinkt des Polizisten nicht geheuer. Der wirkt enttäuscht. Gerne hätte er mit einer Heldentat imponiert. So mutmasse ich jedenfalls. Aber er hat Pech. Bei dieser Scheiss-Seuche gibt es nicht einmal Zombies, die man erlegen darf. Irgendwie frustriert zieht er seiner Wege.

Ich hingegen bleibe. Und nach einigem hin und her kann ich mein Rezept endlich mailen – dem Smartphone und einer richtigen Adresse sei Dank. Schwer beladen trete ich den Rückweg an – keuchend, hustend und pfeifend. Im Gepäck einen nagelneuen Inhalator.

Tage später erfahre ich, dass der Corona Test negativ ist. Wochen später habe ich eine ziemlich heftige Frühjahrsgrippe überwunden. Eineinhalb Monate später verlasse ich zum ersten Mal mein Haus. Der Lockdown wird gelockert und mich lockt es auf mein Motorrad.

Es ist ein befreiendes Gefühl. Die Maske aber bleibt. Bei einer Tour mit meiner Frau kehren wir nirgendwo ein. Kein Espresso in der Frühlingssonne. Kein Wurst-Käsesalat in einer Gartenbeiz. Stattdessen sitzen wir auf einer Bank am Waldesrand. Wir versuchen das Unfassbare zu fassen. Wir beruhigen uns mit dem Gedanken, dass die spanische Grippe ja auch mal vorüber war. Die Erkenntnis, dass Keime nicht einfach so verschwinden, dass sie mutieren, bösartiger und ansteckender werden, verdrängen wir.

Die Sonne scheint warm und der Wald in unserem Rücken spendet eine angenehme Kühle. Vor uns erstrecken sich Felder und auf der Straße zu unserer Rechten glitzert gelegentlich der Lack eines vorbeifahrenden Autos. Die leisen Motorengeräusche werden von dem Zwitschern der Vögel verdrängt. Ich fühle mich wohl und nach der langen Zeit im Haus irgendwie befreit.

Unten, zwischen den grünen und braunen Flächen verläuft ein Feldweg. Er wirkt wie mit dem Lineal gezogen. Auf einem Fahrrad radelt eine dunkelhäutige Schönheit an uns vorbei. Die junge Frau hat das Potenzial tiefe Sehnsüchte zu wecken. Für einen jungen Mann Sehnsüchte erotischer Natur. Ich bin aber kein junger Mann. Ich bin ein alter Sack und nach dem Bewegungsmangel des Lockdowns zu dem ein fetter Sack.

Ich sehne mich nicht nach jungen Frauen. Ich sehne mich nach der Welt, so wie sie vor Corona war. Eine Welt die ohne Masken auskommt. Eine Welt in der man Reisen und sich mit anderen treffen kann. Eine Welt mit Restaurants in denen ich schlemme. Und mit Fitnessstudios, in denen ich meine Pfunde wieder loswerde.

Aber tief in meinem inneren spüre ich, dass diese Welt für immer verloren sein wird. Genauso wie meine Jugend und die Zeit in der ich von schönen jungen Frauen träumen durfte. Frauen wie die, die dort unten in die Strasse einbiegt. Einen Moment sehe ich noch auf ihr schwarzes Haar. Seidig glänzt es in der Sonne. Dann verschwindet die Schöne hinter Büschen und Bäumen.

Danksagung

Ich bedanke mich bei meiner besten Freundin, die mich trotz Corona-Verdacht und angepisst sein, tapfer mit heissem Tee und vitaminreichen Lebensmitteln versorgt hat. Und manchmal, wenn ich schwer atmend des nachts in meinem Bett gelegen bin, hat sie mit einer Lampe in der Hand nach mir geschaut. Meine private Florence Nightingale – meine Lady with the Lamp.

Comments

    • Danke für deine schöne Rückmeldung. ☺️
      Wow, dass ist eine tolle Kritik. Ich fühle mich geehrt und freue mich darüber. Herzliche Grüsse aus der Schweiz 🇨🇭

  1. Wie immer lesenswert.
    Ich hoffe, du bist wieder fit und geschmeidig.
    Auch in diesem Jahr wird es keine normale Motorradsaison geben. Corona wird uns alle noch lange beschäftigen.
    Lass uns das Beste draus machen und vor allem gesund bleiben.
    LG Christa 😃

    • Ja, liebe Christa fit bin ich und was die Geschmeidigkeit angeht, so gebe ich mir Mühe. Ich denke du hast Recht. Das Virus wird uns auch weiterhin beschäftigen und unser Leben beeinflussen. Deiner Empfehlung, das Beste daraus zu machen und gesund zu bleiben schliesse ich mich gerne an. Herzliche Grüsse Thomas

  2. Ich kann mich dem gelungenen Kommentar von Jürgen nur anschließen! Besser kann man es nicht kommentieren!
    Nur soviel, da ich derzeit in jeder freien Minute auch versuche, mit Sprache zu spielen: Ich liebe Deine Sprache! Sowohl die wunderbaren Assoziationen als auch die manchmal ganz kurzen Sätze, die den Satz zuvor relativieren und den Leser schmunzeln lassen. Ich habe das Lesen mal wieder genossen!
    Ulla

    • Liebe Ulla. Danke für deine Rückmeldung. Ich freue mich darüber.

      Ja, ich und die kurzen Sätze. 😀 Bei einer Ausbildung hatte sich mal eine Dozentin darüber mokiert und bei Fachthemen als nicht textsortengerecht kritisiert. 😁 Sie hatte ja nicht ganz unrecht, denn beim Klugscheissern haben lange Schachtelsätze eine unübertroffene Wirkung.

      Ich hoffe du kommst mit deinem Schreibprojekt gut voran. Auf das Ergebnis bin ich sehr gespannt.

      Herzliche Grüsse
      Thomas

  3. Ich stimme ein in den Lobgesang! Humorvoll & doch dennoch beklemmend. Beängstigend und dennoch – auch wenn die Welt nicht mehr wird wie soe war – Hoffnung spendend.

    Ganz grosse Schreibkunst. Ich ziehe meinen 🧢 bzw ⛑

    • Danke, lieber Swizzlybiker. Ich freue mich über deine Rückmeldung. Dein Unternehmen finde ich eine tolle Sache. Und auch das gelungene Imagevideo ist cool. Gerne würde ich mal etwas über dich schreiben. Vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit.

      Herzliche Grüsse
      Thomas

  4. Was für ein schöner Text. „Die Gewissheit, dass Viren die Schweizer Neutralität respektieren …“, das werde ich mir merken.

    • Danke, lieber lumpinho für deine Rückmeldung. Ich freue mich darüber. Bei der Gelegenheit: Deine Rezepte, auf deinem Blog, werden immer komplexer und bringen mich an meine Grenzen. 😀 Aber man wächst ja mit den Herausforderungen. Herzliche Grüsse Thomas

    • Liebe Irène

      Im Vergleich zu Indien ist der nationale Kraftakt, den die Schweiz bewältigen muss überschaubar. In Indien leben soviel mehr Menschen, teilweise auf engsten Raum und unter hygienisch problematischen Umständen. Es gibt uralte religiöse Traditionen und Feste, die Ansteckungen begünstigen. Das Land ist gross und eine geographische Herausforderung. Ich hoffe, dass die Menschen dort die Seuche in den Griff bekommen. Und das bevor gefährliche Mutationen entstehen.

      Bleib gesund und herzliche Grüsse aus deiner alten Heimat. Thomas

      • Ja, hier in Indien ist Social Distancing ein Luxusgut. Das wird mir immer wieder bewusst. Indien hat heute über 273’000 Fälle in den letzten 24h gemeldet. Delhi geht ab heute Abend wieder in deinen strikten Lockdown. Auch bei uns wurde wieder eine Ausgangssperre und Restriktionen eingeführt. Die Prüfungen unseres Sohnes wurden abgesagt. Ich denke, dass die nächsten Wochen schwierig werden und die Zahlen weiterhin stark steigen. Hoffen wir das Beste! Liebe Grüße Irène

  5. Macht einfach Spass, so einen Bericht, oder sollte ich lieber eine Betrachtung sagen, als Begleitung zum Frühstück zu lesen. Hat zwar auch mit dem Virus zu tun, macht aber Hoffnung und verursacht keine Panik.

    Ich bin gestern zum 1. Mal geimpft und hoffe, dass wir bald wieder im Europäischen Ausland mit dem Motorrad unterwegs sein können.

    Liebe Grüße
    Brigitte

    • Danke für deine schöne Rückmeldung, liebe Brigitte. Darüber freue ich mich. Schön, dass du die erste Impfung bekommen hast. Ich habe sie auch schon und im Mai gibt es die Nächste. Bleiben wir gesund! Herzliche Grüsse Thomas

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