Das Desaster

Den grossen Lyriker Rainer Maria Rilke zitieren und trotzdem Scheiss erzählen. Diese bemerkenswerte Leistung gelingt dem mehrfach preisgekrönten Schauspieler Ulrich Tukur. Der Versuch einer kritischen Würdigung auf dem Klo, auf dem Motorradsattel und zwischen den Stühlen.
Wenn mir irgendwo eine DVD in die Hände fällt auf der der Name Ulrich Tukur steht, kaufe ich sie mir. Egal ob mich der Film interessiert oder nicht.
Herr Tukur ist einfach ein guter Schauspieler und es ist gleichgültig wen oder was er gerade darstellt. Sein Spiel ist immer ein Genuss.
Auf diese Weise bin ich in den Besitz des einen oder anderen Ulrich-Tukur-Silberlings gekommen. Und weil Herr Tukur in mehr Filmen mitwirkt als ich Zeit habe, liegen viele dieser DVDs ungeöffnet bei mir herum.
Das ist für mich kein Problem, denn es ist immer gut zu wissen, dass ich es mir mit der Kunst des Herrn Tukur und einem Glas Wein gemütlich machen kann. Wann immer mir danach ist.

Ulrich Tukur ist ein Garant für gute Unterhaltung. So dachte ich bis vor kurzem. Bis zu diesem Moment auf dem Klo, als mich der Schauspieler vom Gegenteil überzeugt.
Es begann mit einem Hinweis meiner Frau. Sie verliess gerade das Badezimmer und ich fragte sie, warum sie schon am frühen Morgen so angepisst aussieht.
Sie meinte nur, dass es verstörende Videos von deutschen Schauspielern im Netz gebe. Ich schaute verständnislos und reagierte mit der mir eigenen morgendlichen Eloquenz: „Hähh?“
„Mach dir selbst ein Bild. Hashtag allesdichtmachen.“
Mit diesen Worten gab mir meine Gattin das Badezimmer frei.
Ich war gerade aus dem Bett gekrochen und spürte das dringende Verlangen meine Notdurft zu verrichten. Auf deutsche Schauspieler hatte ich noch keine Lust. Aber die Mimik und Gestik meiner Frau versprachen nichts Gutes. Und so nahm ich mein Smartphone und konsultierte das World Wide Web.
Die Klobrille war noch angenehm warm. Ein kleiner Vorteil, wenn man als zweiter die Toilette besucht. Und eine kleine Entschädigung für das olfaktorische Desaster, das man dann am stillen Örtchen erdulden muss.
Dieses Örtchen bleibt an diesem Morgen alles andere als still und der Duft von menschlicher Ausscheidung passt perfekt zu dem was ich nun geboten bekomme. Das olfaktorische Desaster meiner Ehefrau vereint sich mit dem audiovisuellen Desaster der deutschen Schauspiel-Elite. Zusammen ergibt beides ein fulminantes Gesamtkunstwerk.

Allerdings erschliesst sich mir die Bedeutung dieses Kunstwerks nicht sofort. Denn ohne den Kontext zu kennen schaue ich mir einen Beitrag des Schauspielers Jan Josef Liefers an. Ich bin beeindruckt.
„Das ist genial!“
Mein lauter Ruf vom stillen Örtchen kommt aus tiefstem Herzen.
„Hast du gesehen mit welch bedrückender Realitätsnähe der Liefers einen Verschwörungstheoretiker spielt? Einfach toll. Dieses Manipulative, das vordergründig Einleuchtende und das eigentlich Bornierte seiner Aussagen. Da bekommt man ja geradezu Gänsehaut.“
Meine Gattin steckt ihren Kopf zur Türe herein. Ihr Gesichtsausdruck lässt erkennen, dass ihr mein Geruch genauso wenig zusagt, wie das Video von Jan Josef Liefers.
„Hier geht es nicht um Schauspiel. Das meint der so, wie er es sagt. Liefers versucht sich als Kritiker der Corona-Schutzmassnahmen.“
Ich kann es nicht glauben. Klar, Jan Josef Liefers ist kein Intellektueller. Aber ein Idiot ist er auch nicht. Kann er gar nicht. Das schliesst das Anspruchsvolle des Schauspielberufs aus.
Leise Zweifel beschleichen mich bezüglich dieser Annahme. Ich lese den Kontext und finde die Einschätzung meiner Gattin bestätigt. Jan Josef Liefers benimmt sich wirklich wie ein Idiot, zumindest in dem Moment als er dieses Video aufnimmt und veröffentlicht.

Naja, wir alle haben mal Momente, in denen wir geistig nicht so auf der Höhe sind. Momente in denen wir irgendeinen Scheiss rauslassen. Das ist mir auch schon passiert. Und jetzt bin ich froh, dass mein Scheiss auf rektalem Weg den Körper verlässt.
Retrograd zu kacken, so wie es Jan Josef Liefers in dem Video tut, kommt nie gut. Vor allem nicht, wenn es aus einem indifferenten Frust heraus geschieht.
Wie Liefers versucht sich Tukur am Genre der Satire. Und rein formal gelingt das Beiden. Kurt Tucholsky formulierte es so:
„Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.“
Tukur und Liefers blasen das auf, was sie für Wahrheit halten. Und ihr Spott richtet sich gegen die Personen und Institutionen, die die Bevölkerung vor einer gefährlichen Pandemie schützen. Vor einer Krankheit, die weltweit grassiert und unzählige Menschen grausam dahinrafft.
Darüber kann man sich lustig machen, aus unterschiedlichen Beweggründen und Blickwinkeln. Man kann es aber auch bleiben lassen. Und fürs Bleibenlassen gibt es gute Gründe.
Nachdem ich auch Tukurs Beitrag angesehen habe, wische ich mir den Hintern ab. Am liebsten möchte ich mit dem Papier auch das entfernen, was Tukur gesagt hat. Denn es bleibt kleben und fühlt sich unangenehm an. Gerne würde ich es aus meinem Bewusstsein wegputzen. Und das eben Erfahrene das Klo runterspülen. Danach nicht mehr daran denken und den Tag geniessen. Aber das gelingt mir nicht.
Der Privatmann Ulrich Tukur hat mir gerade die Freude am Schauspieler Ulrich Tukur verhagelt. Und darüber bin ich echt sauer.
Schauspieler, die man oft sieht, haben etwas wie alte Bekannte. Und das, obwohl man sie nicht kennt. Oder gerade, weil man sie nicht kennt. Sie sind wunderbare Projektionsflächen. Und Ulrich Tukur ist meine Projektionsfläche für einen charmanten, integren und klugen Mann.
Hier habe ich nun ein kleingeistigen, boshaften und hässlichen Tukur erlebt. Ein Mensch in dessen persönlicher Wertehierarchie das Sterben und Leiden der Anderen geringer gewichtet werden als die Gagen, die ihm wegen des Lockdowns durch die Lappen gehen.
Man darf aber nicht zu hart urteilen. Wenn es um den eigenen finanziellen Vorteil geht, werden schnell mal Tod und Leid in Kauf genommen. Vor allem das Leid der Menschen, die man nicht kennt. Dieser Umstand ist nichts besonderes. An der Kleidung, die wir tragen, klebt die Armut derer, die sie herstellen. Und das Smartphone auf dem ich diesen Text schreibe, besteht aus Rohstoffen, die unter menschenverachtenden Bedingungen aus dem Boden geschürft werden.

Ich ignoriere das. Nehme Leid, Tod und soziale Ungerechtigkeit billigend in Kauf. Aus rein materiellen Gründen. Somit bin ich nicht viel besser als die meisten meiner Mitmenschen. Und Ulrich Tukur ist es genauso wenig.
Aber von den meisten Menschen habe ich keine ungesehenen DVD’s rumliegen. Sie sind keine Projektionsflächen für das Gute im Menschen und ihr Schauspiel bereitet mir nicht so viel Freude, wie das des Ulrich Tukur.
Während ich mich ankleide erzähle ich meiner Frau was mich bewegt. Ich schimpfe auf Ulrich Tukur und meine Gattin gebietet mir Einhalt. Dann wäscht sie mir ordentlich den Kopf und ich gebe klein bei.
Natürlich hat sie recht. Im Gegensatz zum deutschen Ulrich Tukur habe ich als Schweizer mehr Freiheiten. Während der Schauspieler frustriert zu Hause rumhängt, geniesse ich mit meiner Gattin den Luxus eines Grandhotels. Soeben habe ich ein Vier-Gänge-Menü ausgeschissen und nun freue ich mich auf ein opulentes Frühstück.
Wobei “Freuen” die Situation nicht ganz trifft. Wenn nicht gerade eine Pandemie über die Menschheit hereinbricht, bin ich ein ganz normaler Hypochonder. In Zeiten wie diesen aber, bin ich voller Angst. Am liebsten wäre ich jetzt wie Ulrich Tukur zu Hause und würde den Menschen aus dem Weg gehen. Aber leider ist das nicht möglich.
Der Aufenthalt in diesem Grandhotel ist ein Geschenk meiner Frau. Und in meiner persönlichen Angst-Hierarchie wiegt die Furcht vor dem Zorn meiner Gattin grösser als die Sorge um Ansteckung.

Ausserdem bin ich froh, dass ich mit meiner Frau Zeit verbringen darf. Ich sehe sie nur an Wochenenden und in gemeinsamen Ferien. Und ich bin gerne mit ihr zusammen. Zumindest solange bis wir uns gegenseitig auf die Nerven gehen. Dann fliehe ich.
Denn neben der Hypochondrie leide ich auch an einer leichten bis mittelschweren Beziehungsunfähigkeit. Meine Fluchtbewegungen haben hier vor allem therapeutische Gründe.
Nein, ich bin weder ein Ideal-Ehemann noch ein guter Mensch. Ein moralisches Urteil über Ulrich Tukur steht mir nicht zu. Vor allem nicht aus meiner Position heraus. Denn im Gegensatz zu ihm habe ich einen krisensicheren Job.
Den hat Ulrich Tukur nicht. Ihm fehlt die Möglichkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Schon ein Jahr lang wird der Mann von seinem Ersparten zehren. Ohne Aussicht auf ein Engagement. Die Theater sind zu und die Filmproduktionen laufen auf Sparflamme.
Armer Kerl! Und trotzdem finde ich seine Satire unangemessen und schäbig. Beim Frühstück hole ich zu einer langatmigen Begründung aus und gehe meiner Frau solange auf die Nerven, bis sie mich ermahnt, endlich die Klappe zu halten.

Das mache ich in kluger Einsicht und versuche still das zu analysieren, was Tukur in seinem YouTube-Video sagt.
Ulrich Tukur beginnt mit erhabener Geste und zitiert Rilke.
Der Tod ist gross.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Diese Zeilen machen uns bewusst, dass der Tod ein fester Bestandteil unseres Lebens ist. Auch wenn wir ihn verdrängen. Er wird uns holen. Manchmal mitten im Leben. Und er wird die, die uns lieben weinen lassen. Was so traurig ist, dass er selbst weint. Es sind schöne Worte. Worte, die demütig machen. Und ausgehend von dieser Demut ätzt Tukur gegen Regierungsbeamte, „die nicht im Stande sind den grossen Tod hinweg zu administrieren“.
Nach dem sich Tukur als feingeistigen Intellektuellen inszeniert hat, vermittelt er im Subtext die Vorstellung von tumben Staatsdienern. Menschen, die die Grösse des Todes verkennen. Die in lächerlicher Hybris versuchen diesem Tod dort etwas entgegen zu setzen, wo es nach Tukurs Ansicht, nichts entgegen zu setzen gibt.
Was hat sich der Herr Tukur dabei wohl gedacht, frage ich mich. Denn ich finde es Scheisse, was er da rauslässt. Ein Scheiss, der mir zutiefst suspekt ist. Die Lesenden mögen mir meine Fäkalsprache verzeihen. Hier und in anderen Textpassagen. Diese sprachliche Entgleisung ist meiner persönlichen Betroffenheit geschuldet. Und was besseres als Scheiss fällt mir zu Tukurs Text nicht ein.
Denn im zynischen Fatalismus vom grossen Tod zu schwadronieren fällt nur denen leicht, die nicht direkt von ihm bedroht sind.

Ich weiss, wovon ich rede. Zwanzig Jahre lang habe ich als kleiner Angestellter dem Tod getrotzt und als Pfleger meinen Dienst am Krankenbett verrichtet. Wahrscheinlich in genau der lächerlichen Hybris, die Herr Tukur hier anprangert. Mit nichts anderem als ein paar Hygieneregeln bin ich dem Tod entgegengetreten. Mit etwas Menschlichkeit und dem, was ich an pflegerischer und medizinischer Kunst umsetzen konnte.
Meist habe ich nicht anderes tun können, als die Leiden beim Sterben zu lindern. Und manchmal war es wichtig einfach nur da zu sein.
Oft aber nicht einmal das. Denn meine berufliche Sozialisation habe ich im deutschen Pflegenotstand erfahren. Ich habe erlebt wie Menschen zum Sterben in Abstellräume geschoben wurden. Beiseite gestellt, weil weder Platz noch Personal da war um sie angemessen zu betreuen. Ich habe gesehen, wie diese Menschen dort einsam und menschenunwürdig ihr Leben verloren. Der Tod hatte da nichts Grosses. Nur etwas Erbärmliches und sehr, sehr trauriges.
In Anbetracht dieser Erfahrung bin ich um jede Stätte menschlichen Wirkens, ja um jeden Handelsplatz froh, der von Regierungsbeamten geschlossen wird. Denn jede Ansteckungsmöglichkeit, die wir verhindern, bedeutet weniger Erkrankte, weniger Leid und weniger Tod. Weniger Tod, der mehr hässlich als gross ist.
Meine Erlebnisse in Deutschland waren hier traumatisch und ich bin froh von dort weg zu sein. Irgendwann bin ich als Wirtschaftsflüchtling in die Schweiz gekommen. Und ja, es ging mir nicht nur darum, dass die Krankenpflege in der Schweiz humaner war. Das hier niemand in Abstellkammern sterben musste. Es ging mir wie Ulrich Tukur auch ums eigene Geld. Um das bessere Gehalt und den höheren Lebensstandard. Um die bessere Demokratie, in der man mehr mitbestimmen kann. Und um die Möglichkeiten mich zu entwickeln. Lehrer zu werden und zu studieren. Möglichkeiten, die mir in Deutschland verwehrt blieben.

Jetzt geniesse ich das Leben hier. Und die Einladung meiner Gattin in dieses wunderbare Grandhotel.
Und das ich mitten in der dritten Pandemie-Welle an dieser Stätte menschlichen Wirkens bin, mich und andere gefährde, lässt meine Kritik schal wirken. Ich schwelge für ein paar Tage in einem fragwürdigen Luxus, für den ich bald wieder hart arbeiten werde.
Und nichts anderes, als für seinen Luxus arbeiten möchte Ulrich Tukur auch. Und weil er es nicht kann, empfiehlt er in aller Boshaftigkeit Wochenmärkte, Lebensmittelläden und Supermärkte zu schliessen.
Denn, sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert, so Tukur, dann entziehen wir auch dem Virus die Lebensgrundlage.
Irgendwie sollte man dem Starmimen die Sache mit der maslowschen Bedürfnispyramide erklären. Aber Tukur geht es nicht darum. Er versucht sich als Satiriker. Tukur bläst die Wirklichkeit auf, wie Tucholsky sagen würde.
Für mich ist es weniger ein Aufblasen. Mehr so ein Blähen, ein schlecht riechender Furz. Tukur möchte einen Lockdown anprangern, denn er unverhältnismässig findet. Er sagt uns, dass eine Welt, in der Tukur nicht öffentlich auftreten darf, nicht lebenswert ist.
Ich selbst bin ja ein ausgesprochener Tukur-Fan, aber soweit würde ich jetzt nicht gehen. Dafür esse und lebe ich zu gern. In meiner Welt gibt es sogar Currywürste, gegen die Tukurs Schauspielkunst keine Chance hätte.

Das was der Unterschied zwischen dem Aufblasen ist, von dem Tucholsky schreibt, und dem Furz, den Tukur lässt, ist die Motivation.
Wenn ein Jan Böhmermann die Wirklichkeit aufbläst, um Missstände anzuprangern, wenn er finstere Despoten neckt, dann ist das ganz im Sinne von Kurt Tucholsky. Wenn es aber einem Ulrich Tukur nur um Ulrich Tukur geht und wenn er dafür Leid und Tod billigend in Kauf nimmt, dann ist es der schlecht riechende Furz, von dem ich hier schreibe.
Satire ist nicht gleich Satire. Sie kann hehre und niedere Ziele verfolgen. Sie kann künstlerisch anspruchsvoll oder platt sein. Und genau hier muss sich ein Künstler der Kritik stellen. Aber das macht Herr Tukur nicht.
Darüber beklage ich mich bei meiner Frau. Mittlerweile haben wir das Grandhotel verlassen. Und auf dem Rückweg hat sich meine Gattin die erste Impfung geholt. Danach ist sie unausstehlich.
Und um nun allen Impfgegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, muss ich folgendes kundtun.
Die unerwünschten Nebenwirkungen einer Beziehung mit mir sind wesentlich grösser und unangenehmer als die der Pfizer-Impfung. Meine manchmal unausstehliche Art ist im Wesentlichen für die Befindlichkeit meiner Gattin verantwortlich. Das gestehe ich ganz offen. So gerne ich auch mit der Impfung von meiner eigenen Sozial-Inkompetenz ablenken würde.

Meine Frau und ich gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Und auch ein NZZ-Interview mit Ulrich Tukur kann meine Laune nicht heben.
Es wird also höchste Zeit in meinen Motorradsattel zu steigen und zu fliehen. Ich will etwas Abstand bekommen. Abstand von meiner Ehefrau und Abstand von dem leidigen Tukur-Thema. Denn nur wenn ich Abstand habe, kann ich mich auch wieder annähern.
Während ich durch eine frühlingshafte Schweiz fahre, versuche ich mein Hirn auslüften. Aber das klappt nicht so recht. Immer wieder wandern meine Gedanken zu dem NZZ-Interview. Mein Gehirn signalisiert mir, dass ich in der Tukur-Sache noch etwas Auseinandersetzung benötige. Und so gebe ich meinem Denken Raum und lasse die Einlassungen Tukkurs Revue passieren.
Ein wenig trotzig reagiert der Schauspieler auf die öffentliche Kritik.
Ganz anders als seine Berufskollegin Heike Makatsch. Die erklärt, dass die Video-Aktion #allesdichtmachen keine so gute Idee war. Unter dem Hashtag #womöglichgescheitert distanziert sie sich davon. Für mich ist das eine vorbildliche Fehlerkultur. Und die zeigt, was ich schon immer vermutet habe. Frauen haben halt doch die dickeren Eier als wir Männer.
Während Makatsch menschliche Größe zeigt, mimt Ulrich Tukur einen schwanzlosen Lurch mit kleinen Hoden. Seine Bühne ist die NZZ. Weder distanziert, noch erklärt er sich. Stattdessen beklagt Tukur, dass sich jetzt alle an die Gurgel gehen.
Dabei weiss doch jeder Satiriker, dass man nass wird, wenn man gegen den Wind pinkelt. Das gehört einfach dazu.
Ulrich Tukur lamentiert, weil es Menschen im Netz gibt, die Berufsverbote und körperliche Züchtigungen fordern. Dabei negiert er, dass Deppen ein Teil unser Lebenswelt sind. Leute, die die Prügelstrafe fordern haben in der Regel ein psychisches Problem. Dort ist Therapie die angemessene Reaktion. Und Menschen, die für so eine Satire Berufsverbot fordern, sollten vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Aber all das ist doch nicht diskussionswürdig.
Diskussionswürdig ist die Art, die Motivation und die Qualität seiner Satire. Über Tukurs Meinung, dass die deutsche Regierung angeblich erratisch und kontraproduktiv agiert, sollte man auch reden.
Vielleicht geht es ja Ulrich Tukur nicht nur um Ulrich Tukur. Vielleicht sorgt er sich ja um die vielen Menschen, deren Existenzen von der Corona-Krise vernichtet werden.
Und die unzureichende Hilfe für diese Menschen ist auf jeden Fall ein wichtiges Thema.
Aber all dem entzieht sich Ulrich Tukur. Kritik an Ulrich Tukur stilisiert er zu einer Kritik an der Satire an sich. Tukur tut so als dürfte er nicht Hofnarr sein. Als sei es ihm verboten den Politikern einen Spiegel vorzuhalten.
Aber die Politiker in Deutschland sind Demokraten. (Vielleicht mit Ausnahme einiger kruder Gestalten am rechten und linken Rand.) Und diese Demokraten lassen sich den Spiegel vorhalten. Selbst wenn es ein tukurscher Zerrspiegel ist.
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn hat aufgrund der Satiren zum Dialog gebeten. Und da ist nichts von der „erhabenen Regierung“, wie sie Tukur in seiner Satire intoniert.
Die deutsche Regierung zelebriert in erfrischender Weise ein spiessiges, sachliches und bescheidenes Beamtentum. Und gerade als Schweizer und Exdeutscher weiss ich das zu schätzen.
Immerhin würdigt Tukur die Dialogbereitschaft des Gesundheitsministers. Vielleicht schafft es Jens Spahn ja, dass Tukur sich dem Disput stellt.
Vielleicht können Pflegende ihn mal zur Arbeit mitnehmen. Denn wenn er das Leiden und Sterben hautnah mitbekommt, wird das sicher seine Urteilskraft schärfen. Auf der anderen Seite ist es nicht gut, wenn die Patientinnen und Patienten in dieser Diskussion instrumentalisiert werden. Da hat der deutsche Arzt recht, der ein ähnliches Anliegen von Jan Josef Liefers abgelehnte.
All das geht mir durch den Kopf, während ich durch den Frühling fahre und das Knattern meiner Royal Enfield geniesse.
Ich habe mich mit meiner besten Freundin verabredet. Das mache ich gerne, wenn ich Abstand brauche. Gerade in diesen Momenten schätze ich die analytischen Gespräche mit ihr.
Treffen wollen wir uns im Nirgendwo. Und das ist ein guter Ort. Vor allem wenn man sich in einer Pandemie nicht anstecken will.
Meine beste Freundin wird dort mit ihrem Camper auf mich warten, was ganz praktisch ist. Denn in dem Auto befindet sich eine Kochgelegenheit und man kann Espresso machen. Kaffee ist eine wunderbare Droge, die das Denken fördert.
Natürlich hätten wir die analytischen Gespräche auch zu Hause führen können. Immerhin teilen wir uns Heim, Herd und Espressomaschine. Aber die Natur bietet an diesem sonnigen Tag den besseren Rahmen. Und so freue ich mich auf schönes Wetter, Koffein und eine gute Unterhaltung.
Ein wenig Gas geben, noch ein paar Kurven nehmen und dann sehe ich das blaue Blech im frischen Grün glänzen.

Ich entledige mich der schweren Motorradkleidung und gönne mir mein erstes Sonnenbad. Und während wir fern ab jeglicher Ansteckungsgefahr Kaffee trinken, bekomme ich Lust auf einen Ulrich-Tukur-Film.
In einem Campingstuhl sitzend beschliesse ich meine Gedanken niederzuschreiben. Denn wenn ich es mir von der Seele schreibe, dann kann ich diese unerquickliche Tukur-Geschichte endlich bei Seite legen.
Ich hoffe, ich werde danach das Spiel des Mimen wieder geniessen können. Und ich hoffe das hier nicht der Prinz-Charles-Memory-Effekt zum Tragen kommt.
Der Prinz-Charles-Memory-Effekt hat nämlich nichts mit dem gemeinen Prinz-Charles-Effekt zu tun. Mit dem Effekt, von dem man gelegentlich in den Medien liest. Immer dann, wenn die alte Generation nicht von der Macht lassen kann. Der Prinz-Charles-Memory-Effekt ist etwas vollkommen anderes. Ich habe diesen Effekt selbst nach dem britischen Thronfolger benannt. Und das aus folgendem Grund:
Immer wenn ich Prinz Charles in den Medien sehe, muss ich an einen Wunsch denken, den er mal geäussert hat. Ein Wunsch, der aufgrund einer Indiskretion öffentlich wurde. Den Wunsch ein Tampon der Duchess of Cornwall zu sein.
Ich weiss, dass das total doof ist. Aber mein Gehirn kann nicht anders. Diese Indiskretionen der Boulevardpresse ist gnadenlos in meinem Kopf hängen geblieben.
Ich hoffe, dass es mir mit der Tukur-Satire nicht ähnlich geht. Denn das wäre weitaus schlimmer. Immerhin ist mir die Vorstellung, ein Tampon der Liebsten zu sein, von Grund auf sympathisch. Viel sympathischer als das Desaster der misslungenen Tukur-Satire.

Anmerkung I
Der Text enthält ebenfalls satirische Passagen. Ich bitte die geneigten Lesenden von der Androhung körperlicher Züchtigung und von der Forderung eines Berufsverbotes freundlichst Abstand zu nehmen.
Ich bin da zwar etwas robuster als der Herr Tukur, aber schön ist es trotzdem nicht.
Anmerkung II
Ich habe soeben gelesen, dass im WDR-Rundfunkrat Stimmen laut wurden, die einen Rausschmiss von Tukur und Liefers gefordert haben.
Mensch Leute! Ihr habt ja schon in der Oma-Motorrad-und-Hühnerstall-Affäre schwanzlose Lurche gemimt. Und im aktuellen Trauerspiel reicht es ja vollkommen, wenn Ulrich Tukur diese Rolle übernimmt. Der ist in dem Metier sowieso besser und wird euch alle gegen die Wand spielen.
Als gebürtiger Rheinländer erwarte ich vom WDR, dass die Verantwortlichen Eier haben. Auch wenn der Volkszorn hochkocht. Das Rechtsgut der Meinungsfreiheit ist einfach zu wichtig, als dass man es wegen ein paar missratener Satiren beschädigt.
Leute, die wegen schlechter Satiren Berufsverbote fordern, sind mir grundsätzlich suspekt. Wenn sie nicht gerade dem WDR-Rundfunkrat angehören, gehören sie in den Fokus des Verfassungsschutzes.
Aber bei Menschen, die der Sendung mit der Maus ein Zuhause geben, ist das dann doch etwas übertrieben.
Ich denke hier könnte eine betriebliche Weiterbildung ausreichen. Beim WDR gibt es ja ein Haufen Angestellte, die dem Rundfunkrat die komplexe Sache mit der Meinungsfreiheit erklären können. Die machen das ziemlich anschaulich. Und ich vertraue hier voll und ganz auf die Lernfähigkeit des Rates.
Genauso wie wir auf die Lernfähigkeit von Tukur, Liefers & Co vertrauen dürfen. Die öffentliche Empörung bewirkt doch einen prima kognitiven Konflikt. Das wird solche Lernbewegungen auslösen, dass mir das Pädagogenherz aufgeht.
Und bei der Schauspiel-Elite ist es wie in der Schule. Mädchen wie Makatsch lernen halt etwas schneller. Und Jungs wie Tukur und Liefers müssen sich erstmal mit lernblockierenden Hormonen herumschlagen. Da muss Trotz und Widerstand überwunden werden. Aber Lernen ist halt nicht einfach. Und am Ende erreichen ja auch ein paar Jungs das Klassenziel.
Anmerkung III
Der Text ist der zweite Teil meines Giessbach-Reisberichts und erscheint aus aktuellem Anlass vor dem ersten Teil. Der wird demnächst veröffentlicht.

Bildzitat I: Ulrich Tukur im YouTube Video. Dieses Bild demonstriert, wie man mit der Lichtsetzung die Wahrnehmung der Zuschauenden erfolgreich manipulieren kann. Auf dem ersten Blick wirkt es wie ein ganz normales YouTube-Video. Ein Video, wie es von vielen Laien gemacht wird. Schlecht ausgeleuchtet, mit unter- und überbelichteten Bildanteilen. Aber dem ist nicht so. Genau betrachtet sind alle Bildteile korrekt beleuchtet. Das Bild besteht aus einem hellen und zwei dunklen Bereichen. Der helle Bereich befindet sich in der Mitte des Kopfes von Tukur. Er symbolisiert, dass hier die alles erhellende Botschaft kommt. Das Ulrich Tukur Licht in die Dunkelheit bringt. Die dunklen Bildanteile stehen für das Finstere der COVID-Situation.
Helle Bildanteile, die nicht überbelichtet sind, nennt man fachsprachlich High-Key-Elemente. Dunkle Bildanteile sind Low-Key-Elemente. Oft sind ganze Bilder, Filmszenen oder Filme in low- oder high-key gehalten.
Die Aufnahmen von Ulrich Tukur sind wahrscheinlich von Profis gemacht. In Videokonferenzen kann man aber auch mit den häuslichen Lichtquellen spielen und so Stimmungen erzeugen, die das Gegenüber beeinflussen. Um diesen Effekt zu erzeugen, nennen wir ihn mal Tukur-Effekt, positioniert man eine gerichtete Schreibtischlampe frontal vor das Gesicht. Mit etwas Tesafilm, Backpapier und Pappe lässt sich die Lichtführung optimieren. Das kann richtig Spass machen und etwas Stimmung in die Gespräche bringen.

Bildzitat II: Ulrich Tukur im YouTube Video. Von der Bildgestaltung, die wir hier sehen, können wir für die nächste Videokonferenz lernen. Im Wesentlichen bestimmen die Garderobe des Schauspielers und der Hintergrund den Bildeindruck.
Tukur trägt dunkel, als Ausdruck der Trauer über den Lockdown. Seriös ist er mit der Uniform der Moderne bekleidet: Jackett und Hemd. Diese Seriosität soll das angeblich seriöse seiner Botschaft unterstreichen. Tukur trägt aber keine Krawatte und kein weisses Hemd. Das sind nämlich die Symbole der Angepassten und der Beamten, gegen die er wettert. Er wählt die Uniform der Innovativen. Und bei denen sind Krawatte und Fliege ein Tabu. In modernen amerikanischen Unternehmen ist dieser Dress-Code weit verbreitet.
Beim Hintergrund achtet Tukur auf einen möglichst grossen Kontrast zu ihm. Die weiss gekalkte Mauer ist dazu perfekt. Nichts lenkt von dem ab, dem unsere ungeteilte Aufmerksamkeit gehören soll. Nämlich von Tukur. Subtil wirkt die leichte Textur der Backsteine auf unsere Wahrnehmung. Sie symbolisiert, dass sich Tukur eingemauert fühlt, von den Schutzmassnahmen, die er ablehnt und von der Regierung, der er die Kompetenz abspricht.
Das Möbelstück, rechts unten im Bild wirkt auf den ersten Blick etwas störend. Zuerst habe ich geglaubt, dass der Kameramann geschlampt hat. Hat er aber nicht. Dieses Möbelfragment soll uns sagen, dass das Bild zufällig entstanden ist, wie viele solcher Videos. Es soll von der geplanten und berechnenden Bildgestaltung ablenken.

Bildzitat III: Ulrich Tukur im YouTube Video. Ein wesentlicher Aspekt, wie man im Bild wirkt, wird von der Höhe der Kamera bestimmt. Steht die Kamera über unseren Augen, schaut man auf uns herab. Wir wirken klein und untergeben. Befindet sich die Kamera unterhalb des Augenniveaus wirken wir gross und erhaben. Bei Laptops, die auf viel zu niedrigen Tischen stehen, ist das ein Effekt, der dann etwas lächerliches hat.
Ulrich Tukur wählt eine optimale Kameraposition. Ganz leicht unterhalb des Augenniveaus. So haben wir den Eindruck mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Und doch schauen wir zum grossen Meister auf.
Rechtshinweis
Bilder aus dem Ulrich-Tukur-Video sind Bildzitate im Sinne der deutschen und schweizer Gesetzgebung.
Sollte Herr Tukur anderer Meinung sein und die Entfernung fordern, so soll er mir kurz schreiben.
Ich werde mich nicht mit seinen Anwälten anlegen und von meinem Zitierrecht kein Gebrauch machen. Das Bildmaterial würde in diesem Fall umgehend entfernt werden.
… schön ist ja auch, wer diesen Aufruf mit organisiert hat. von wegen, das ganze habe überhaupt nichts mit querdenkern oder parteien am rechten rand zu tun. im gegenteil. selten so gelacht:-(
zitat aus der taz: “Volker Bruch, Mitinitiator von #allesdichtmachen, hat einen Mitgliedsantrag für „Die Basis“ gestellt.. Und wie Recherchen von Netzpolitik auf Grundlage eines Anonymous-Hacks nun zeigen, ist Bruch bereits Mitte März in die Querdenker-Partei Die Basis eingetreten. Vorläufige Mitgliedsnummer 967..” (taz, 4.5.21)
Danke für diesen Hinweis. Das ist ein unappetitlicher Sumpf, der damit zusammenhängt.
Hallo Thomas,
allesdichtmachen hört sich nach Verstopfung an.
Ein aufgeblähter Driss, der daraus resultiert. Die ganze Aktion war Driss und viele Reaktionen ebenfalls. Aber vielleicht täusche ich mich und es handelt sich doch viel mehr um Durchfall, geistiger Dünnpfiff sozusagen. Ich kann die mediale Aufregung nicht ganz nachvollziehen, wahrscheinlich wird in ein paar Tagen keine Scheißhausfliege mehr danach krähen.
ssssssssssssss, so einen LIEBEn Gruß
vom rüpel
😀 Sowohl “geistige Verstopfung” als auch “Durchfall” sind hier passende Metaphern, lieber Rudi Rüpel. Danke für den erfrischenden Kommentar.
Die Aufregung kann ich sehr wohl verstehen. Wenn prominente Personen so einen Scheiss rauslassen, dann ist eine öffentliche Diskussion darüber wichtig. Vor allem wenn es Menschen sind, die einem solchen Sympathiebonus haben.
Herzliche Grüsse
Thomas