Royal-Enfield-Herbst-Tour

Etappe 3: Die Amputation des Grosszehs, orientierungslos ins Zillertal und ein schlüpfriges Lied zum Abendessen

Der Zacherlbräu in Bruck ist das Ziel. Österreichische Küche vom Feinsten, ein gediegenes Ambiente und die Freuden des Fischens erwarten uns. Das alles will aber erst einmal mit einer zünftig Motorradtour verdient werden. Unter Schmerzen verdient, denn mein rechter dicker Zeh macht mir das Leben zur Hölle. In Bruck werde ich meine Frau drauf schauen lassen – Ehrenwort. Ich fahre nach den Anweisungen der freundlichen Dame von der Apple Karten-App. Dabei gebe ich wirklich mein Bestes. Trotzdem verfahre ich mich. Anscheinend habe ich Mühe, den Anweisungen einer Frau dauerhaft zu folgen. Meine Gemahlin hat es dann so formuliert: „Dank deinem miserablen Orientierungssinn und deiner Unfähigkeit die Hinweise eines Navigationssystem zu interpretieren, dürften wir nun das schöne Zillertal kennen lernen.“ Das Zillertal ist wirklich ein Höhepunkt unserer Motorradtour und meine Frau freut sich über den unverhofften Abstecher.

Zillertal: Unverhoffter Höhepunkt

Es ist halt nicht nur schlecht einen Mann mit Schwächen zu haben. Meine Frau weiss das und vor allem ist ihr bewusst, dass ich eine Schwäche für sie habe. Es gibt kaum einen Wunsch, den ich ihr abschlagen kann. Also wünscht meine Frau kräftig drauf los. Ein Motorradtour dort, eine Fahrt über den Grossglockner da. Dann noch ihre leuchtenden Augen, als ich ihr mitteile, dass ich zu meinem Laptop ein Blue-Ray-Laufwerk und eine Frauenserie dabeihabe. Eigentlich ist sie ja gegen zu viel Elektronik, aber bei Frauenserien macht sie eine grosszügige Ausnahme. Fürs Angeln wird mir also nicht viel Zeit bleiben.

Kulinarischer Geheimtipp: Österreichische Küche vom Feinsten

Im Zacherlbräu werden wir herzlich begrüsst. Ich frage Thomas, den Wirt, ob es in der Herbstzeit leckeres Hirschpfeffer gibt. Aber Thomas belehrt mich, dass die Hirsche jetzt Brunftzeit haben und ihr Fleisch aus diesem Grund nicht geniessbar ist. Stattdessen steht Lammfleisch auf der Karte und es wird köstlich sein. Vor diesem Genuss wollen wir uns aber noch umziehen. Raus aus den Motorradklamotten und rein in die Abendgarderobe. Dumm nur, dass ich meinen Fuss nicht aus dem Motorradstiefel kriege. Der Schmerz am Grosszeh ist höllisch.  Ich bitte meine Frau um Hilfe. Die unkt: „Ein Typ der eine Frau zum Stiefel ausziehen braucht – wie unmännlich ist denn das?“ „Das sind Daytona Urban – Motorradstiefel für den Puristen“, entgegne ich zwischen zwei Schmerzensschreien. Meine Frau lächelt listig: „Nicht Puristen – Masochisten. Du musst dich verlesen haben. Dann reisst sie mir mit einem Ruck den Stiefel vom Fuss und mir schiessen Tränen in die Augen. Mit angewidertem Blick begutachtet sie meinen Zeh. Trotzig weise ich darauf hin, dass es Frauen gibt, die mich in den Stiefeln sexy finden. „Du trägst Stiefel, die so eng sind, dass du davon eingewachsene Zehennägel bekommst. Der Zeh ist entzündet und voller Eiter. Du glaubst gar nicht, wie erotisch wir Frauen eitrige Zehen finden – total sexy ist das hier.“ Ihre Argumentation überzeugt und ich gebe mich geschlagen. Meine Frau diagnostiziert, dass der Eiterherd eröffnet werden muss und ich will nach einem Arzt googlen. Doch meine Frau ist ein sparsamer und tatkräftiger Mensch. „Du brauchst keinen Arzt, das mache ich selbst.“ In einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet, verkündet sie: „Den Zeh amputiere ich dir mit der Nagelschere.“ In Gedanken überschlage ich, was unangenehmer ist, eine Operation ohne lokale Betäubung oder Stress mit meiner Frau. Nach kurzem Nachdenken entscheide ich mich für die Operation. Während sie ihre Nagelschere mit Parfüm desinfiziert, wird sie versöhnlich: „Natürlich amputiere ich deinen Zeh nicht vollständig. Ich werde nur den Eiterherd eröffnen.“ Vergnügt schnippt sie mit der Schere und säuselt: „Schnipp, schnapp – schnipp, schnapp.“ Schon beim Wörtchen „nur“ ist mir kalter Schweiss ins Gesicht getreten. Ich flehe um ein Beissholz. Meine Frau lehnt aber ab. Sie ermahnt mich: „Sei kein Jammerlappen.“ Dann schneidet sie mir ins Fleisch. Den Schnitt spüre ich nicht aber den Druck, mit dem sie den Eiter aus der Wunde presst. Auf einer Skala von 0 bis 10 liegt mein Schmerzlevel bei gefühlten 128. Ich schreie und heule, während meine Frau in aller Seelenruhe über Aussehen, Geruch und Menge des ekligen Sekretes doziert. In ihren Augen funkelt der Ärger, den sie mit mir in einer zwanzigjährigen Ehe ertragen musste: Meine mühevolle Domestizierung zum Sitzpinkler in den ersten Ehejahren. Meine Selbstverwirklichung in Hochschulstudien. Mein mangelndes Engagement in Sachen Hausarbeit und Kindererziehung. Die unzähligen Male, die ich zu spät gekommen bin, all die vergessenen Hochzeitstage und vieles Schlimmeres mehr. Im Gedenken an unser Eheleben drückt sie noch einmal herzhaft zu und mir schwinden die Sinne. Das erste, was ich dann wieder wahrnehme, ist der Satz: „Na, das war doch gar nicht so schlimm.“  Dann giesst sie mir ihr Parfüm auf die Wunde und ich brülle vor Schmerzen. Sonnig erklärt mir meine Frau: „Das desinfiziert und riecht jetzt besser.“  Sie ist mit sich und der Welt zufrieden. Ich hingegen jammere vor mich hin.  Für Selbstmitleid lässt mir meine Gattin aber keine Zeit. „Nun trödel nicht, dass Abendessen wartet.“  Ich schleppe mich zu meinem Seesack, krame meine Kleidung und ein paar bequeme Stoffschuhe hervor. Dann hinke ich ihr hinterher. „Dein Gang ist voll sexy,“ stichelt meine Frau. „Diese Stiefel zu kaufen war eine echt gute Entscheidung.“ Dann fragt sie: „Wer findet dich eigentlich darin sexy?“ Mit verlegenem Blick schaue ich zu Boden. Um ehrlich zu sein weiss ich es nicht. Ich hatte das einfach mal so behauptet. Es ist mehr Hoffnung als Tatsache. Irgendwo auf dieser Welt wird es doch wohl Frauen geben, die einen Mann wie mich in klassischen Motorradstiefeln sexy finden, oder etwa nicht? Der letzte Teil dieses Gedankens beunruhigt mich. Geschickt gehe ich über Frage meiner Frau hinweg und wechsle zum Thema Essen. 

Was eine gestandene Bikerin mit einer Nagelschere und einem Fläschchen Parfüm so alles anstellen kann: Zartbesaitete wollen es gar nicht wissen und Hartgesottne erschaudern.

Nach diesem brutalen Akt brauche ich jetzt etwas Verbindendes und Friedvolles in unserer Ehe. Essen und Bier bringen dann auch den ersehnten Frieden. Drei Musikanten in Tracht betreten das Lokal. Heute wurde in Österreich gewählt, es waren Erntedankfeste und eine Brauchtumsfeier. Ergo: Die Jungs haben schon ordentlich einen in der Krone. Leicht lallend beginnt der Mann mit der Ziehharmonika die Frau hinter mir anzubaggern. Er würde nun für sie ein Lied spielen, in dem es darum geht, wie man in Österreich Kinder zeugt. In voller Inbrunst und mit lustiger Melodie beginnen die Musikanten zu spielen. Dazu singen sie: „Zipferl rein, Zipferl raus.“ Zu meinem Erstaunen schunkelt meine Frau zu der Melodie. Eigentlich ist eine derart reduzierte Sexualität nicht so ihr Ding. Aber sie klärt mich auf. Frivoles Liedgut, so erfahre ich von ihr, hat hier Tradition. Sie berichtet mir von einer Gruppe älterer Damen, die ihr im Sommer in einem Berglokal begegnet waren. Die Frauen sahen aus, als gehörten sie dem örtlichen Sittlichkeitsverein an. Bewaffnet mit diversen Instrumenten sangen die Damen und ihre Texte waren derart schlüpfrig, dass den Zipferlsängern hier die Schamröte ins Gesicht steigen würde. Gerne hätte ich auch den Frauen gelauscht, aber ich begnüge mich mit dem Zipferl-Lied. Wobei die Sänger hier eine solche Ausdauer zeigen, dass jedem Zuhörendem klar wird: Das Lied handelt nicht vom Problem der vorzeitigen Ejakulation. Zum Nachtisch hat dann der musikalische Koitus ohne nennenswerten Höhepunkt ein Ende gefunden. Dafür hatte mich die Mahlzeit in kulinarische Höhen geführt.

Trinkfeste Musikanten im Zacherlbräu: Lokalkolorit und Ausdauer

Zum Abschluss gönne ich mir einen Schnaps: Die selbstgebrannte Dörrbirne des Hauses. Der Mann mit der Ziehharmonika hat meine volle Bewunderung. Obwohl er hacke dicht ist, schwärmt er von den touristischen Vorzügen seiner Heimat. Die Präzision, mit der er seine Worte artikuliert und die sichtliche Mühe, die er dabei hat, zeugen von einer trinkfesten Konstitution. Er empfiehlt mir dringend Wildwasser Rafting. Ich erkläre ihm, dass ich wasserscheu bin. Sein begehrlicher Blick liegt auf dem Schnaps in meiner Hand und er stellt die hoch philosophische Frage, wieso er, der nicht wasserscheu ist, keinen Schnaps hat und ich der Wasserscheue schon. Dieses Mysterium kann nur der österreichische Wahlkampf erhellen. Auf großflächigen Plakaten stand: Wer Kurz will, muss Kurz wählen. Und was dem Ex-Kanzler recht ist, kann für Spirituosen nur billig sein: Wer Schnaps will, muss Schnaps bestellen. Ich kippe den Alkohol hinunter und beschließe dem Mann keinen auszugeben. Die Gefahr, dass er danach mit einer Alkoholvergiftung im Spital landet, ist nicht unerheblich. Ich aber bestelle mir noch einen. Mein teilamputierter Zeh verlangt nach Betäubung und besser Schnaps als Kurz. Obwohl mich die Eloquenz des Mannes schon noch beeindruckt. Aber als Ausländer halte ich mich da raus. Ex-Kanzler Kurz ist eine innere österreichische Angelegenheit. Die Zehenanalgesie mit Schnaps ist hingegen ein internationales Verfahren.

Bruck an der Grossglocknerstrasse: Sonnenuntergang über der Salzach

Fortsetzung: Etappe 4 – Gut das wir keine Jäger und Sammler sind, God Save the Queen und der Fischer von der traurigen Gestalt

Reiseetappe 1: Ein Unfall, zwei Frauen und ein überforderter Mann

Reiseetappe 2: Die Geisterstadt, keine mumifizierte Mutter im Schaukelstuhl und ein guzzifahrender Schosshund

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Comments

  1. Oha… am Ende bleibt die Frage: ist Essen tatsächlich der Sex des Alters?
    Autschn… aber sehr schön geschrieben 😇✌️
    Freue mich auf die Fortsetzung…

    Sonnige Grüße
    Suse

    • Ja, das ist eine gute Frage. Ich muss zugeben, dass der sinnliche Aspekt des Essens mit den Jahren immer intensiver wird. Das Lustvolle des Esssens erlebe ich viel stärker als früher.

      Vielen Dank für das Kompliment zum Text.

      Herzliche Grüsse
      Thomas

  2. Oh je Du Ärmster, gottseidank bist Du da halbwegs heil rausgekommen aus der Nummer mit der Not-OP, wenn auch leicht lädiert. 🙂 ))))
    Was sag ich immer “Schmerz formt den Charakter”.
    Bin schon gespannt wie es weitergeht.

    Wie immer, für uns Leser seeeehr unterhaltsam geschrieben.
    Danke. 🙂

    Die Linke zum Gruß,
    Edi

    • Hallo Thomas,
      ja, das glaub ich Dir gerne. 🙂 ES gibt Dinge im Leben auf die man gerne verzichten möchte…..

      Ich hatte das gleiche “Problem” mal in der Jugend…. mir fehlt seit dem tatsächlich ein halber dicker Zeh.
      Da hab ich anschl. mit viel Blut Verlust zu tun gehabt im Stiefel, da wir arm waren u. meine Pflegemutter kein Auto besaß u. ich zu Fuß (nach der OP) 7 km mit Schmerzen in mein Heimatdorf gehen “durfte”.
      Das war tatsächlich einer von vielen prägenden Momenten in meinem Leben.

      Daher schrieb ich, das formt den Charakter. 😉

      Lg u. Dir / Euch einfach eine gute Zeit,
      Edi

  3. Auf Motorradfahrten hat man viel Zeit zur Reflexion, auch vergangener Beziehungen. Die meisten tun das allerdings allein mit sich und ihren Gedanken unter dem Helm, die wenigsten während einer Teilamputation. Mein Mitgefühl an der Stelle!

    • Ja, meine Frau meinte recht trocken, dass sie unsere Beziehung während des Eingriffs nur sehr oberflächlich reflektiert hat. Hätte sie genauer über die Ehe mit mir nachgedacht, dann hätte sie das ganze Bein, wenn nicht noch mehr amputiert. In diesem Sinne habe ich eigentlich Glück gehabt.

      Herzlichen Dank für deinen Kommentar und das Mitgefühl

      Thomas

  4. Lieber Edi

    Welch heftige Erfahrung! Da bekommt man den Eindruck, dass du keine leichte Kindheit hattest.

    Ich freue mich schon, wenn wir uns endlich Mal treffen und ich dann mehr von dir erfahre.

    Herzlich
    Thomas

  5. N’abend Thomas,

    stimmt….. gottseidank schon lange her.
    Ja das mit einem Treffen, müssen wir dann doch mal irgendwann in Angriff nehmen. 🙂
    Hab mir eben deine Bildesammlung mal komplett angeschaut.
    Du hast den richtigen Blick für das schöne im Bild.

    Lg u. einen schönen Abend,
    Edi

  6. Au ja Thomas,

    Du hast ja das rechte Händchen dafür….. 🙂
    Brauchen wir dann eventuell noch eine schöne morbide Location.
    Ich mag die Stimmung von verlassenen Orten.
    Da fällt uns sicher dann was ein.

    Lg u. ein sonniges WE,
    Edi

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