Mit der Enfield von Indien nach Europa

Teil 6: Kasten im Kopf

Der Polizist ist paramilitärisch gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet. Das ist im friedlichen Kerala eher ungewöhnlich. Auch sein barsches Verhalten irritiert mich. Indische Polizisten habe ich bis jetzt anders erlebt. Sie treten zwar bestimmt auf, sind aber durchaus freundlich. Nie so anweisend.

Der Beamte hier schaut mir finster in die Augen. Dann knurrt er etwas im Befehlston. Ich erwidere sein Knurren mit einem freundlich-debilen Lächeln. Ein Lächeln, mit dem ich zum Ausdruck bringe, dass ich nur Bahnhof verstehe. 

Dieses Unverständnis liegt nicht nur daran, dass der Polizist mürrisch und undeutlich spricht. Ursächlich sind vor allem meine desolaten englischen Sprachkenntnisse. Ein steter Quell für Kommunikationsschwierigkeiten aller Art.

Ich bin mit dem Motorrad in Südindien unterwegs und Gott sein Dank nicht allein. Hinter mir, auf dem Sozius, sitzt meine sprachbegabte Reisebegleiterin. Und die begreift sofort, was der Mann will. Ich bitte sie um eine Erläuterung und sie übersetzt mir das Gesagte: „Wir sollen auf keinen Fall in die Stadt fahren, meint er. Wir sollen dahin zurück, wo wir hergekommen sind.“

„Echt jetzt?!“ 

Meinem eloquenten Nachfragen folgt ein Entgleisen meiner Gesichtsmuskeln. Meine Kinnlade klappt nach unten und ich wirke einigermassen schockiert. Würden wir jetzt in die Richtung zurückfahren aus der wir gekommen sind, wären wir noch Stunden unterwegs. Stunden bis wir zur nächsten Unterkunft kommen.

Wir sitzen schon den ganzen Tag im Motorradsattel und ich bin müde. Entsprechend gereizt antworte ich meiner Sozia: „Ich fahre nicht mehr dahin, wo wir hergekommen sind.“

„Das musst du nicht mir erklären, sondern dem Herrn mit dem Maschinengewehr.“

Mit diesem Einwand hat meine Sozia nicht ganz unrecht. Eigentlich fände ich es jetzt gut, wenn sie dem Polizisten klar macht, dass Umkehren keine realistische Option ist. Aber die Frau hinter mir tut nichts dergleichen. Also seufze ich tief und beginne auf den Mann einzureden. Das mache ich in einem wahrhaft abenteuerlichen Englisch-Kauderwelsch. Selbst ich verstehe nicht, was ich da sage. Einfach totquatschen und dann weiterfahren. Das ist meine Strategie. Eine Strategie, die leider nicht funktioniert. Auf Verhandlungen lässt sich dieser Polizist nicht ein. Und das nervt mich gewaltig. Ich habe nämlich nur einen Wunsch: Ich möchte mich auf einem Bett in irgendeinem Hotel ausruhen. Und die einzige Unterkunft in einem grösseren Radius befindet sich nun einmal in dieser Stadt. In der Stadt, zu der uns ein schwer bewaffneter Typ den Zutritt verweigert. 

Am liebsten würde ich mich seiner Anordnung widersetzen. Aber das wäre schon aus grundsätzlichen Erwägungen eine schlechte Idee. Wenn es sich vermeiden lässt, sollte man sich nicht mit der Exikutive eines Staates anlegen. Das ist in Indien genauso, wie überall auf der Welt. Und bei diesem martialisch aussehenden Gesetzeshüter wäre ziviler Ungehorsam eine superschlechte Idee. Der Mann strahlt eine solch wehrhafte Grimmigkeit aus, dass sich selbst Rambo vor Angst in die Hose pissen würde. 

Unwillig wende ich das Motorrad. Dann beschleunige ich in die Richtung aus der wir gekommen sind.

Vom Sozius aus ruft mir meine Beifahrerin die Frage zu, auf die ich auch keine Antwort weiss:

„Wo sollen wir übernachten?“

Ich grunze etwas Unbestimmtes und konzentriere mich auf die Strasse. 

Die Sonne ist untergegangen und es ist ziemlich dunkel. In der Luft liegt ein Dunst, der jedem Edgar-Wallace-Film Ehre machen würde. Unter den Sichtverhältnissen weiterzufahren wäre viel zu gefährlich. 

Während sich diese Erkenntnis in meinem Hirn manifestiert, taucht im Dämmerlicht eine Abzweigung auf. Ein Feldweg, der von der Richtung her, zurück in den Ort führen müsste. 

Das könnte unser Schleichweg zum nächsten Hotel sein, denke ich mir. Unbemerkt am Polizeiposten vorbei. 

Genau genommen hat uns der Polizist nur die Weiterfahrt auf der Hauptstrasse verwehrt. Den Rest habe ich sowieso nicht verstanden. Ortsansässige hat er erst kontrolliert und dann durchgelassen. Also wird sich die Gefahrenlage in Grenzen halten. Nur Leute, die nicht aus der Gegend sind mussten umkehren. Warum eigentlich? Ich weiss es nicht. Müde, wie ich bin, will ich auch nicht weiter darüber nachdenken. Spontan treffe ich eine Entscheidung und biege von der Landstrasse ab, gespannt ob der Weg tatsächlich in die Stadt führt.

„Meinst du, dass das eine gute Idee ist?“

In der Frage meiner Sozia schwingt Misstrauen, und dieses Misstrauen ist durchaus berechtigt. Trotzdem gebe ich mich selbstsicher. 

„Hast du einen anderen Vorschlag? Oder magst du eine romantische Nacht unter freiem Himmel?“

Ich lege eine angemessene Portion Ironie in meine Frage und ihr Schweigen signalisiert, dass sie auf eine solche Nacht keine Lust hat. Eine Nacht auf hartem Untergrund und im direkten Kontakt mit der tropischen Bodenfauna. Dazu Staub zwischen den Zähnen, Hunger im Magen und Durst in der Kehle. 

Eine weiche Matratze, fliessendes Wasser und eine gute Mahlzeit sind eindeutig die besseren Alternativen. Aber um all das zu bekommen, müssen wir es irgendwie in die Ortschaft schaffen. 

Holprig tuckert das Motorrad über die lehmige Piste und ich versuche zu erkennen was vor uns liegt. Sonderlich erfolgreich bin ich dabei nicht. Der Scheinwerfer erhellt nur wenige Meter, dann verliert sich das Licht in unzähligen kleinen Staubpartikeln. 

Die Sichtverhältnisse tragen zur allgemeinen Unsicherheit bei und meine Sozia meldet sich wieder zu Wort.

„Glaubst du, dass wir hier irgendwo hinkommen?“

Nein, den Glauben daran habe ich schon vor ein paar Kilometern verloren und in mir festigt sich die Gewissheit, dass der Weg ins Nirgendwo führt. Um uns herum ist nämlich nur Dunkelheit und Dunst. Irgendwelche Pflanzungen verschwimmen mit der Finsternis.

Resignation macht sich in mir breit und das Gefühl vermischt sich mit meiner Müdigkeit. Beides verdichtet sich zu dem Bedürfnis an Ort und Stelle anzuhalten. Anzuhalten, um hier das Nachtlager aufzuschlagen. Wobei es nichts zum Aufschlagen gäbe, denn wir sind auf Camping nicht eingerichtet.

Ich will schon ein herzhaftes „Fuck“ in die Nacht brüllen, da tauchen die Silhouetten der ersten Häuser auf. Meine Müdigkeit und das Gefühl der Resignation verschwinden schlagartig. 

„Siehst du.“ In meiner Stimme liegt ein wenig Triumph. Ein kleiner Triumph der sich sogleich im Zwielicht verliert. Aber was soll es. Wir kommen in den Ort und das ist die Hauptsache. 

Polizei ist nicht zu sehen und niemand hält uns auf. Überhaupt sind nirgendwo Menschen. Nur ein Hund rennt mit eingezogenem Schwanz über die Strasse. Leise winselnd verkriecht er sich hinter irgendeinem Gemäuer. 

Wir fahren in das Städtchen und verirren uns in verwinkelten Gassen. Manche Häuser sind von grosszügigen Gärten umgeben und nur schemenhaft können wir die Gebäude erkennen. 

Hier und da kriecht Licht, durch einen Fensterspalt. Grosse Palmen ragen schwarz gen Himmel. In einen Himmel ohne Mond und ohne das wunderbare Funkeln der Sterne.

Überall sind die Stassen menschenleer. Und nach dem wir ein paar Mal abgebogen sind, sehen wir endlich einen Mann am Wegesrand. Wir halten neben ihm und erkundigen uns nach einer Unterkunft.

Der Mann zeigt sich seltsam reserviert. Es gibt kein Hotel, behauptet er. Am besten sollen wir zur Hauptstrasse fahren und von dort die Stadt verlassen.

In meinem Reiseführer steht aber, dass es ein Hotel gibt. Und eine Siedlung von dieser Grösse hat immer eine Übernachtungsmöglichkeit. Keine Ahnung, warum der Typ etwas anderes behauptet. Auf jeden Fall ist es nicht verkehrt, wenn wir seiner Wegbeschreibung folgen. Denn da, wo die Hauptstrasse ist, wird das Zentrum nicht weit sein. Und dort werden wir sicher eine Unterkunft finden.

Das Brummen des Motorrads hallt durch die verlassenen Strassen und neben diesem Geräusch liegt noch irgendetwas beunruhigendes in der Luft. Es ist schwer zu fassen. Aber es bereitet mir ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend.

Nach einigem herumirren erreichen wir endlich die Hauptstrasse. Auch dort ist wenig los. Hier und da kämpfen Strassenlaternen gegen die staubige Luft. Ansonsten versinkt die Stadt in Finsternis und Dunst. Die Szenerie hat etwas Gespenstisches.

Dann taucht vor uns ein Hotel auf. Polizeifahrzeuge und Militärtransporter stehen davor. Wir parken dazwischen und gehen in das Haus. Polizisten wuseln geschäftig hin und her. Immer wieder quäken Stimmen aus Sprechfunkgeräten.

An der Rezeption fragen wir, ob noch ein Zimmer frei ist. Der Angestellte dort schaut uns unschlüssig an. Dann wendet er sich hilfesuchend an einen Polizisten in Zivil. Der blickt sich mit besorgtem Gesicht um. Gerade noch hat er einer Gruppe Uniformierter Befehle erteilt. Und nun widmet er uns seine Aufmerksamkeit.

Interessiert mustere ich den Mann. Er ist weder klein noch gross. Seine Kleidung hat etwas Unauffälliges und der Schnauzbart wirkt akkurat gestutzt. Damit unterscheidet er sich nicht von vielen anderen Männern. Und doch scheint etwas bei ihm anders zu sein. Es ist sein Habitus und die Art wie er sich bewegt. In alledem liegt eine militärische Zielstrebigkeit. Der Mann strahlt Entschlossenheit aus. Er ist einer jener Menschen, die über eine natürliche Autorität verfügen. 

Seine Sätze formuliert er in einem ruhigen Tonfall. In einem Tonfall der trotz aller Freundlichkeit keinen Widerspruch duldet.

Wir dürfen hier Übernachten. Wir dürfen uns drüben im Lebensmittelladen etwas zu essen holen. Aber dann sollen wir in unser Zimmer gehen und die Polizei nicht weiter stören. Morgen Früh können wir abreisen.

Nach dieser Anweisung wendet sich der Polizist wieder einem Kollegen zu. Der zeigt ihm etwas auf einer Karte und die beiden beginnen angeregt zu diskutieren.

Wir fragen den Mann an der Rezeption, was denn los sei. Doch der bleibt uns die Antwort schuldig. Immerhin erfahren wir, dass die Polizei eine provisorische Zentrale eingerichtet hat. Hier im Hotel. Die Beamten sind aus der Hauptstadt des Bundesstaates gekommen. Sie wollen etwas erledigen. Was immer das sein mag.

Wir laden das Gepäck vom Motorrad und beziehen ein kleines Zimmer. Der Raum liegt im ersten Stockwerk. Er verfügt über ein Bett, ein Waschbecken und eine Toilette. Träge dreht sich ein altersschwacher Deckenventilator. Was will ich mehr.

Die Sprechfunkgeräte aus dem unteren Stockwerk sind deutlich zu hören und laufend kommen Meldungen rein. Die schnell gesprochen Worte, die fremdklingende Sprache und das hektische Treiben verweben sich zu einem spannungsgeladenen Klangteppich.

Begleitet von dieser Geräuschkulisse richten wir uns für die Nacht ein. Dann waschen wir uns den Staub aus Gesicht und Händen. Ein wohltuendes Ritual.

Nach dem wir uns so erfrischt haben, gehen wir zum Lebensmittelladen. Hier im Ortskern sind ein paar Menschen unterwegs. Sie drücken sich an Zäunen und Häuserwänden. Es scheint, als wollten sie schnell nach Hause.

Das Alles hat etwas Unwirkliches. Angst liegt über dem Ort. Ich kann es deutlich spüren. 

Im Lebensmittelladen decken wir uns mit Esswaren ein und schlendern zur Verkaufstheke. Dort steht eine Gruppe Männer. Die tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Erregung liegt in ihren Worten. Aber kaum sind wir bei ihnen, verstummen die Gespräche. Misstrauisch werden wir in Augenschein genommen. 

Wir grüssen freundlich und versuchen mit dem Ladenbesitzer ins Gespräch zu kommen. Im Gegensatz zu seinen Kunden wirkt der jovial und spricht englisch. Sobald wir aber Fragen zur Polizeipräsenz stellen, verhält er sich abweisend und wortkarg. All das wirkt mysteriös. 

Vor dem Laden treffen wir dann auf einen jungen Mann. Bei ein paar Zigaretten zeigt der sich auskunftsbereit: Es gibt in der Stadt eine Hochzeit, erklärt er. Eine Unberührbare will heiraten. Und ihr Auserwählter ist ein Angehöriger einer höheren Kaste. Dieser Umstand erzürnt diejenigen Menschen, die sich der alten hinduistischen Gesellschaftsordnung verbunden fühlen.

Entweder haben radikale Hindus die Hochzeitsfeier heute überfallen oder sie haben einen Überfall angedroht. So ganz werde ich aus den Ausführungen des Mannes nicht schlau. Auf jeden Fall geht es um Leben und Tod. Und es geht um die innere Sicherheit. Das erklärt das massive Polizeiaufgebot.

Indien ist ein Land, in dem jahrtausende alte Traditionen auf eine moderne Welt treffen. Konflikte sind da vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass Kerala, ein gut funktionierender Bundesstaat ist. Ein Bundesstaat, mit einem vorbildlichen Gemeinwesen. Zumindest habe ich es so gehört.

Kerala ist das Land, in dem zum ersten Mal in der Geschichte eine kommunistische Partei freie und demokratische Wahlen für sich entscheiden konnte. Seit diesem historischen Ereignis wechseln sich die Kommunisten und die Kongresspartei in der Regierung ab. Aber egal wer gerade an der Macht ist: Die Regierung des Bundesstaates gilt im Grossen und Ganzen als säkular, sozial und effizient.

Vor kurzem ist Sukhdev Singh Kang Chefminister des Bundesstaates geworden. Der Mann ist von Berufswegen Richter. Ich habe keine Ahnung wie seine politische Haltung einzuordnen ist. In diesem Fall zeigt er, dass seine Regierung angemessen reagiert. Wenn religiöse Fanatiker Recht und Ordnung gefährden, muss man beherzt eingreifen. Und das können wir in dem Ort eindrucksvoll miterleben. Hier im Hotel wird der Einsatz bis tief in die Nacht koordiniert.

Am nächsten Morgen sind die Polizisten wieder weg. Uns zieht es auf die Landstrasse und unsere Enfield tuckert dort, wo man mich schon so oft hingewünscht hat: Da wo der Pfeffer wächst. Wir fahren durch Gewürzplantagen und Palmenhaine. Die Landschaft ist traumhaft und tausend Düfte steigen mir in die Nase. Vom Meer weht eine angenehme Brise. Die Luft ist klar und das Blau des Himmels lässt meine Seele weit werden. Die Stimmung heute steht im krassen Gegensatz zur bedrohlichen Atmosphäre von gestern.

Manchmal sehen wir Menschen am Strassenrand, die uns zuwinken. Gut gelaunt winken wir zurück. Die Umgebung und die Kleidung der Menschen strahlen so viel Exotik aus, dass ich mir wie in einem Märchen vorkomme. 

Halten wir mal, begegnet man uns offen und freundlich. Während einer dieser Pausen bietet uns ein junger Mann eine Kokosnuss an. Geld dafür lehnt er empört ab. Die Nuss hat uns der Mann frisch von der Palme geholt. Mit akrobatischem Geschick ist er den Stamm rauf- und runtergeklettert. Jetzt öffnet er die Schale mit einem gezielten Machetenhieb. Der Saft schmeckt frisch und köstlich. Kerala heisst übersetzt das Land der Kokospalmen. Die Geste des Mannes und sein Geschenk sind ein schönes Symbol dafür.

Ich fühle mich an diesem sonnigen Vormittag pudelwohl. Und das hat nicht nur mit den netten Menschen und der wunderbaren Gegend zu tun. Auch das Erlebnis von gestern geht mir noch nach. 

Ich bin Tourist und will mir nicht anmassen ein Urteil über die Vorkommnisse zu fällen. Mit meinem schlechten Englisch ist nicht einmal gewährleistet, dass ich die Zusammenhänge richtig begriffen habe. Und was verstehe ich schon von einer so alten und ehrwürdigen Religion wie dem Hinduismus. Das Einzige, worauf ich mich verlassen kann, ist mein Wertesystem. Und hier hatte ich den Eindruck, dass die Polizei von Kerala zwei wichtige Werte verteidigt: Den Wert der romantischen Liebe und den Wert der Gleichheit. Das vermittelt mir ein starkes Gefühl von Sicherheit.

Gestern wollten (oder haben) radikale Hindus eine Hochzeitsgesellschaft bedroht. Trotz aller sozialen Schranken hat eine Unberührbare, einen Mann aus einer hohen Kaste geheiratet und ich hoffe inständig, dass die Beiden noch am Leben sind. Denn so eine Hochzeit ist in einem kleinen Ort ein Unding, ja geradezu ein Sakrileg. Die beiden müssen sich sehr lieben, wenn sie trotz aller sozialen Schranken, den Bund der Ehe eingehen. Der indische Staat schützt sie zwar, aber die Kastengesellschaft ist seit viertausend Jahren in den Köpfen der Menschen verankert. Das sitzt tief. Selbst aufgeklärte und moderne Inder sind in diesen alten Strukturen gefangen. Als Europäer sollten wir uns aber den erhobenen Zeigefinger in den eigenen Hintern stecken. Denn wir haben selbst Kasten und mit dem Ideal der sozialen Durchlässigkeit ist es auch bei uns nicht so weit her.

Ich lege den Gedanken für einen Moment bei Seite, denn wir haben die alte Hafenstadt Kochi erreicht. Kochi ist der bedeutendste Gewürz-Handelspunkt an der indischen Westküste. Ein Ort an dem sich portugiesisches Flair mit indischer Exotik mischt. 

Auch Holländer und Briten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Und die ortstypischen Fischernetze stammen aus dem alten China. Kochi hat eine multikulturelle Prägung. Und natürlich leben in so einem Ort Menschen mit den unterschiedlichsten Glaubensbekenntnissen. So weit ich weiss, geht das meist friedlich vonstatten.

Entsprechend meines Vornamens interessiert mich die Geschichte der Thomas-Christen. Die waren ursprünglich mal ein Ärgernis für die Katholische Kirche. Der heilige Thomas ist nämlich zu einer Zeit ins Land gekommen, als das Christentum in Rom noch als dubiose Sekte galt. Thomas reiste quer durch den mittleren Osten, bis er hier in Indien landete. Dort missionierte er fleissig und das wohl mit bleibendem Erfolg. Es heisst, er habe einige einflussreiche Brahmanen überzeugen können. Belege dafür gibt es leider keine. Aber so wird die Geschichte seit Urzeiten erzählt. 

Der heilige Thomas fand in Indien nicht nur Freunde. Und ein Speer setzte seinem missionarischen Treiben ein vorzeitiges Ende. Aber sein Erbe blieb. Denn die, in dieser christlichen Frühzeit gegründeten Gemeinden, existieren bis heute. Ein Umstand, der die portugiesischen Missionare recht erstaunte.  

Sie landeten im sechzehnten Jahrhundert an der Küste Südindiens. Und im Gepäck brachten sie den Anspruch, dass allein die römisch-katholische Kirche selig machen darf. Dieses spirituelle Monopol ist den Hindus bis heute suspekt. In ihrer bunten Götterwelt haben die unterschiedlichsten Ideen und Vorstellungen Platz. Und auch die Thomas-Christen wollten sich nicht in dem katholischen „Kastensystem“ unterordnen. Hatten sich die portugiesischen Missionare am Anfang über die christlichen Brüder und Schwestern gefreut, ärgerten sie sich nun über deren Renitenz. Sie bestanden darauf, dass der Papst der Boss ist. Ein Dogma, das manche Thomas-Christen nicht einfach so hinnehmen wollten. Sie lehnten sich auf und es kam zum Schwur des schiefen Kreuzes in Cochin. Das Ereignis hat in Kerala eine Bedeutung, die der Publikation von Luthers Thesen in Europa gleichkommt. Das Ergebnis war eine Spaltung und der Umstand, dass sich ein Teil der Thomas-Christen von Rom lossagte.

Die katholische Kirche ist ein gutes Beispiel für eine kastenähnliche Struktur in Europa. Und das bis zum heutigen Tag. Der Klerus ist ja eine Kaste an sich. Eine Kaste mit vielen Unterkasten. Frauen dürfen dort nur in niederer Funktion mitmachen und sie haben fast den Status von Unberührbaren. Ebenso Menschen mit einer anderen sexuellen Orientierung. Lange Zeit galten auch Lutheraner als „unberührbar“ und Ehen, über die Konfessionsgrenzen hinaus waren einst in Europa verpönt.

Natürlich hinkt der Vergleich. Das Kastendenken im Hinduismus hat einen metaphysischen Grund und das, was den Christen Himmel und Hölle sind, dass bedeuten den Hindus das Kastensystem. Eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Denn wer im letzten Leben gut gehandelt hat, wird in eine höhere Kaste geboren. Mit der Geburt, so glaubt man im Hinduismus, wird einem der Platz im Leben zugewiesen, den man sich verdient hat. Ein Ausbrechen aus diesen Schranken bedeutet, dass man sich gegen die kosmische Ordnung stellt. 

Nicht ganz so kosmisch, aber ähnlich funktioniert das Bildungssystem in Deutschland. Wer bis zum vierten Schuljahr nicht die nötige Leistung erbringt, landet auf der Hauptschule. Und in dieser unteren Kaste macht man bestenfalls die mittlere Reife. Ein Aufstieg in höhere Kasten gelingt nur wenigen, insbesondere wenn man aus einem problematischen Milieu kommt. 

Jahre nach dieser Reise werde ich als Hauptschüler diesen Aufstieg wagen. Und es wird Menschen in meinem Umfeld geben, die aufgrund dieser Tatsache in Kulturpessimismus verfallen. Das schulische Kastensystem wird immer noch tief in ihren Köpfen verankert sein. „Wenn Legastheniker und Schulversager studieren dürfen“, so werden sie argumentieren, „dann ist der Wert der akademischen Bildung in ernster Gefahr.“ Aber das ist noch lange hin.

Vorerst spaziere ich mit meiner Reisebegleiterin durch das alte Kochi – wenig gebildet aber bestens gelaunt. Vorbei an alten Gebäuden mit Ziegeldächern, die im pastellfarbenen Glanz erstrahlen. Entlang der belebten Hauptstrasse, hin zum holländischen Palast, der eigentlich von den Portugiesen stammt. Wir sehen Synagogen und Kirchen und landen beim alten Fort Cochin. Dort bewundern wir die freischwebenden Fischernetze. Chinesische Händler hatten sie zur Zeit des Kublai Khan hierhergebracht. Multi-Kulti in seiner wunderbarsten Form.

Wir essen frischen Fisch und trinken dazu kühles Bier: Kingfisher Premium Lager. Es ist ein wunderbarer Tropfen und das finde nicht nur ich. Kingfisher ist das meist getrunkene Bier Indiens. 

Einen kleinen Nachteil hat die Sache aber. Nach einem Glas bekomme ich jedesmal furchtbaren Durchfall. Irgendwie scheine ich es nicht so gut zu vertragen. Aber wie sagt man so schön: Ein bisschen Verlust ist immer. Und das Bier schmeckt so lecker, dass mir das eine Diarrhö allemal wert ist. 

Nachdem ich die Restaurant-Toilette in einen renovierungsbedürftigen Zustand versetzt habe, gönnen wir uns noch einen Kaffee. Danach machen wir uns auf zum Schönsten, was die Gegend zu bieten hat.

Die Brackwassergebiete an der Küste Keralas sind eine Touristenattraktion. Auf einer Strecke von 1900 Quadratkilometern erstrecken sie sich von Kochi in den Süden des Landes. Leider sind diese Gewässer ein bedrohtes Ökosystem und Feuchtwälder und Mangroven sind vielerorts den Kokos- und Kautschukplantagen gewichen. 

Tiere, wie das Krokodil, sind hier ausgestorben. Ein Umstand der grundsätzlich schade ist. Auf der anderen Seite hat diese Tatsache auch etwas Beruhigendes, vor allem wenn man an den sogenannten Backwaters lebt. 

Wir nehmen die Dienste von Fischern in Anspruch. Mit ihrem kleinen Boot zeigen sie uns den Hafen und ein wenig von den Brackwassergebieten.

Es ist ein Ruderboot mit einem kleinen Segel. Manchmal setzten wir Muskelkraft ein und manchmal lassen wir uns vom Wind treiben.

Das Alles hat etwas Romantisches: Die Stimmung, das Wasser und die Exotik. Das Alles mit Ausnahme der Tatsache, dass die Fischer in der sozialen Hierarchie weit unten stehen. Sie leben in relativer Armut. Laut Hinduismus, aufgrund einer kosmischen Ordnung und laut Kapitalismus, weil sie das Pech hatten am falschen Ort geboren zu sein. 

Während ich für einen Moment das Ruder übernehme, denke ich über diese soziale Ungleichheit nach. 

Zwar gibt es im Kapitalismus keine kosmische Ordnung, aber die Möglichkeit aufzusteigen – theoretisch zumindest. Der Kapitalismus braucht keine kosmischen Dimensionen. Denn die freie Lohnarbeit und das Streben nach Gewinn werden hier als Allheilmittel gesehen. Der Moralphilosoph Adam Smith hatte im 18. Jahrhundert die Grundlagen zu diesem System formuliert. Aber Smith war ein Idealist. Sein System hat massive Schwächen. Und hier in diesem Boot überlege ich, woran dieses System scheitert. Noch fehlt es mir an Bildung und Lebenserfahrung. Und so komme ich zu keinem Schluss. 

Jahre später werde ich das sogenannte Matthäus-Prinzip als eine der wesentlichen Schwächen ausmachen. 

„Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nichts hat, dem wird auch das Wenige genommen.“

So steht es schon in der Bibel. Es ist ein universelles Prinzip und funktioniert sowohl beim Aneignen von Wissen und Kompetenzen als auch beim Anhäufen von Geld und materiellen Gütern. 

Deswegen kann Kapitalismus nur funktionieren, wenn der Zugang zu Bildung allen konsequent gewährt wird. Und natürlich nur, wenn man das Anhäufen von Kapital reguliert.

Elf Jahre später werde ich zu dieser Erkenntnis gelangen. Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages wird dann die Ergebnisse zu Studien bezüglich der sozialen Mobilität in Deutschland zusammenfassen. Unter anderem werde ich da nachlesen, dass der soziale Aufstieg in der Bundesrepublik schwieriger ist als in den meisten anderen Industrieländern. 

Das deutsche Kastensystem der Bildung wird immer noch bestehen und vielen den sozialen Aufstieg erschweren. Mir wird dann der Aufstieg gelungen sein, weil ich in der Schweiz leben werde und weil dort das Kastensystem durchlässiger ist. 

In Indien wird das Kastensystem wie eh und je ein Teil des Alltagslebens sein. Die Regierung wird aber Anstrengungen unternommen haben, um Kastenlosen den Zugang zur Bildung und zu guten Jobs zu ermöglichen.

Die Liebe über Kastengrenzen hinaus wird weiterhin sanktioniert. Betroffene müssen um ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Es wird aber eine Hilfsorganisation geben, die diesen Liebenden hilft, ihr Glück zu finden. Im Geheimen und weit weg von ihren Familien. 

Die Kästen im Kopf wird man nicht aufbrechen können. Weder in Indien noch in Deutschland. 

REISETIPPS FÜR ENFIELD-TOUREN

Indien ist das Land der Gegensätze – auch in Liebesdingen. Auf der einen Seite wird die Liebe in romantischen Bollywood Filme gefeiert und das Kamasutra ist das wohl spektakulärste Erotik-Lehrbuch, das je geschrieben wurde. Auf der anderen Seite sind arrangierte Ehen Alltag und Prüderie ist gang und gäbe.

Viele Inderinnen und Inder können Liebe und Partnerschaft nur in engen Grenzen ausleben. Bei europäischen Gästen ist man da etwas toleranter. Trotzdem sollten wir uns vergegenwärtigen, dass unverheiratete Paare nicht überall gern gesehen sind. Meine Reisebegleiterin und ich haben einfach behauptet, dass wir verheiratet waren. Sie ist sogar so weit gegangen, dass sie einen gemeinsamen Sohn erfunden hat. Und das, weil Frauen mit Söhnen ein höheres Ansehen geniessen. Ich habe mich bei diesen Unwahrheiten nie besonders wohl gefühlt. Ganz doof wurde es, wenn aus flüchtigen Begegnungen engere Bekanntschaften wurden. Dann war mir dieses Lügengebäude zutiefst peinlich.

In unserem öffentlichen Verhalten haben wir uns immer an indischen Paaren orientiert. Hier kann man sehr gut beobachten, was an einem Ort angemessen ist und was nicht.

Reisende, die sich in eine Inderin oder einen Inder verlieben, können von Irenés Erfahrungen profitieren. Sie hat ihr Herz an einen indischen Mann verloren und mit ihm in Madras eine Familie gegründet. Auf Ihrem Block berichtet sie regelmässig von ihrem Leben dort. Der Blog ist nicht nur lesenswert, weil er interessante Einblicke in den indischen Alltag gibt. Auch ihre kulinarischen Rezepte sind echte Highlights.

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IRÈNE IN INDIEN

Love Commandos

Hinweis: Die ersten zehn Fotos sind Symbolbilder und zum Teil mit Pixabay-Material entstanden.

BILDERGALERIE

Comments

  1. Hi Thomas, danke für die Verlinkung von meinem Blog. Mit Interesse habe ich von deinem Abenteuer in Kerala gelesen. Leider kommen solche Situationen immer noch vor. Wenn sich ein Paar außerhalb der Kaste oder Religion verliebt, müssen sie oft um ihr Leben bangen und den Kontakt mit der Familie komplett abbrechen. Aber vor allem in den Städten bricht das Kastensystem langsam auf. Hier gibt es immer mehr Love Marriages.
    Der Apostel Thomas wurde übrigens in Chennai, auf dem St. Thomas Mount getötet und seine Überreste oder ein Teil davon sind in der St. Thomas Cathedral in Chennai zu finden.
    Liebe Grüße in die Schweiz 🇨🇭
    Irène

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