Rorschacher Tristesse

Von den Virenschleudern am Frühstücksbüffet und über Senioren die einen lustigen Euthanasie-Tripp unternehmen. Gedanken zur Frage, ob Fotografen verhaltensgestörte Sozialphobiker sind und eine kleine Selbstreflexion genau zu diesem Thema. Von einem Ort der Trostlosigkeit und einem Milliardär, der mit seiner Kunstsammlung der Tristesse entgegenwirkt. Und von der allgegenwärtigen Pandemie, die mich daran hindert diese Kunstsammlung anzusehen.

Wir sind in dem altehrwürdigen Schloss Wartensee einquartiert. Hoch über dem Bodensee erhebt sich das massive Gemäuer und Wolkenfetzen tanzen über einen schaurig schönen Mond. Das Zimmer, in dem wir die Nacht verbringen wirkt aber so gar nicht nach Schloss. Eher nach einem italienischen Einrichtungshaus. Nur der Wind, der draussen um die Mauern pfeift lässt etwas Schlossgespenst-Atmosphäre aufkommen. Und natürlich die Käuzchen, deren Rufe immer wieder durch die Nacht dringen. Für einen Moment nehme ich die Stimmung in mir auf, dann schlafe ich wieder ein. Absurde Träume prägen die Nacht. Im Schlaf plagt mich die Angst, dass ich meine geliebte Royal Enfield parke und dann vergesse, wo ich sie abgestellt habe. Ich irre durch surreale Szenerien und finde mein Motorrad nicht. Immer wieder taucht eine nackte Frau mit einer rosa Honda Godwin auf. Auf den Wimpel am Heck der schweren Maschinen prangen die Symbole für infektiöses Material. Ihr gigantischen Brüste wogen wie in Slow Motion. Die Frau will mich zu sich auf den Sozius locken. Aber ich renne weg und bin immer verzweifelter. Verzweifelt, weil ich das eigene Motorrad nicht finde. Meine Suche bleibt erfolglos und der Wecker erlöst mich von dem absurden Geschehen.

Am Morgen bin ich schon früh auf den Beinen und verzichte aufs Duschen. Das ist so eine Art Corona-Prophylaxe von mir. Es gilt als erstes das Frühstücksbüffet zu stürmen. Mein Ziel ist es genügend Kalorien auf verschiedenen Tellern an meinem Tisch zu sichern. Das muss geschehen, bevor andere kommen und ihre Viren quer über die Auslagen husten. Dank des zeitigen Aufstehens habe ich eine ausgezeichnete Startposition. Pole-Position sozusagen. Und dennoch schaffe ich es nur knapp. Eine Gruppe französischer Senioren liegt mit mir hart im Rennen. Sie haben den Vorteil der senilen Bettflucht und das finde ich unsportlich. Aber unsportlich kann ich auch. Immerhin bin ich fitter und verschaffe mir meinen Vorsprung schon auf den Fluren. Geschickt weiche ich Rollatoren aus und schneide nach vorn strebenden Gehstöcken den Weg ab. Oft drängele ich mich rüde vor. Wäre dies ein Formel-1-Rennen würde man mich bei so einem Verhalten disqualifizieren. Aber das ist mir egal. Immerhin geht es um meine Gesundheit. Gerade noch rechtzeitig habe ich mein Frühstück gesichert, da versammeln sich die ersten Betagten vor dem Käse und den Wurstscheiben. Anscheinend veranstalten sie einen Wettbewerb in feuchter Aussprache. Dabei husten, röcheln und niesen die Herrschaften was das Zeug hält. Wie das halt alte Menschen so machen, wenn sie sich etwas verkühlt haben. An die Pandemie scheint niemand zu denken. Im Gegensatz zu mir sind die Alten gut drauf. Vor allem sind sie sozialen Kontakten nicht abgeneigt. Mich hingegen hat die Pandemie zu einem misstrauischen Misanthropen gemacht. Trotzdem hoffe ich, dass der fröhliche Seniorenausflug nicht zu einem Euthanasie-Tripp wird. Das Grundproblem ist, dass wir Menschen ein Gehirn haben, dem die Pandemie-Tauglichkeit fehlt. Wir sind viel zu optimistisch. Krankheiten und Unglück sind etwas, was nur die Anderen betrifft. Das bekommen wir von dem Klumpen Eiweiss suggeriert, der unser Bewusstsein hervorbringt.

„Ich habe bisher kein Corona bekommen, also wird es auch in Zukunft gut gehen.“

Dieser Trugschluss des menschlichen Geistes ist gut für die Psychohygiene. Er lässt uns in einer Welt voller Gefahren bestehen. Und das frohen Mutes. Aber er lässt uns auch sehenden Auges ins Verderben laufen. Dank dieser Disposition bauen wir Kernkraftwerke und sichern sie nicht gegen den Absturz grosser Flugzeuge. Wir rüsten um die Wette und lagern Atomwaffen, mit denen wir die ganze Welt in die Luft sprengen können. Wir rasen mit unseren Verbrennungsmotoren einem katastrophalen Klimawandel entgegen und glauben allen Ernstes, dass uns das persönlich nicht betreffen wird. Wir rauchen, saufen und nehmen Drogen, denn die gesundheitlichen Folgen müssen mit Sicherheit nur die Anderen tragen. Und auf dem Motorrad verzichten viele auf die Leuchtweste. Wir sind ja bis jetzt gesehen worden, also wird das auch in Zukunft der Fall sein. Unser Gehirn wiegt uns in trügerischer Sicherheit. Und so ist es klar, dass ich wieder jeder Vernunft, in einem Hotel einkehre und die Senioren dort drüben einen gefährlichen Gruppenausflug geniessen.

Die asiatische Schönheit, die nun den Raum betritt, ist nicht nur in Bezug auf Corona eine Gefahr. Ihr sexy Äusseres hat das Potenzial einen Priapismus auszulösen. Sie steuert direkt auf unseren Nachbartisch zu. Meine Frau missbilligt meinen – wie sie meint – lüsternen Blick. Angeblich taxiere ich ihre Rundungen. Aber dem ist nicht so. Vor der Pandemie hätte meine Frau durchaus recht gehabt. Bei einer solchen Tischnachbarin würde ich in diesem Moment mein Frühstück voll sabbern. Aber das war einmal. Jetzt versuche ich die Schöne mit provozierenden Blicken vom Nachbartisch weg zu scheuchen. Denn die Frau hustet und schnupft ungeniert durch die Gegend. Mir vergeht dabei die Lust am Frühstück.

Im Gegensatz zu den Senioren sind junge Menschen eine noch grössere Gefahr. Immerhin ist der jugendliche Leichtsinn ja sprichwörtlich. Ich möchte gar nicht wissen auf welchen Partys die gestern Viren sammeln war.

Das ist auch ein einschneidender Nachteil der Corona-Pandemie. Früher hätte mich eine solche Frau zu erotischen Phantasien inspiriert. Heute denke ich nur noch: Weiche von mir böser Geist! Klar AIDS und Syphilis sind auch Pandemien. Auch sie besitzen das Potenzial, dem erotischen Miteinander ein wenig die Unbefangenheit zu nehmen. Aber mit diesen Krankheiten kann man besser leben. Immerhin stellen Kondome und Leck-Tücher einen wirksamen Schutz gegen das HI-Virus dar. Und dass die Syphilis-Gefahr dadurch nicht ganz ausgeschlossen wird, lässt sich gut verdrängen. Auch die Tatsache, dass immer mehr antibiotikaresistente Syphiliskeime unterwegs sind. Aber Corona verbreitet sich nicht nur durch eine Schmierinfektion. Diese Viren befinden sich in mikroskopisch kleinen Tröpfchen, die mit beängstigender Agilität quer durch den Raum tanzen. Sie sind von beachtlicher Robustheit und überleben auf allen möglichen Oberflächen. Menschen in meinem Alter und mit meiner Disposition werden von so einer Infektion einfach hinweggerafft. In Anbetracht dieses Wissens verlasse ich fluchtartig den Frühstückssaal.  

Ich brauche frischen Wind in der Nase und am liebsten würde ich auf meine Maschine steigen. Aber meine Frau hat keine Lust auf Motorrad. Also einigen wir uns auf einen Spaziergang.

Unser Weg führt uns runter an den Bodensee, zu der kleinen Ortschaft Rorschach. Das Wetter ist unbeständig und entsprechend wenigen Menschen begegnen wir. Ich geniesse das. Hier und da entdecke ich schöne Fotomotive. Mit Begeisterung knipse ich verrottende Baumaschinen. Meine Frau kann diese Begeisterung nicht teilen. Sie nervt sich immer wieder einmal an meiner Fotoleidenschaft. Fotografen findet meine Gattin absolut unsexy. Ich glaube nur Helmut Newton strahlt auf sie eine gewisse Attraktivität aus. Aber der ist schon seit längerem tot. Ich verstehe meine Frau. Newton war ein grossartiger Fotograf. Er sah gut aus, machte tolle Fotos und hatte umwerfende Motive. Ich wäre auch gerne etwas mehr Helmut Newton. Aber leider bin ich das nicht. Und nicht nur mein Äusseres, sondern auch meine Fotokünste können mit dem großen Meister nicht mithalten.  Entsprechend rekeln sich vor meiner Linse keine überirdischen Schönheiten. Und in Ermangelung solcher Motive fotografiere ich halt irdischen Schrott. Ob es nun meiner Frau passt oder nicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es auch nicht OK wäre, wenn ich ein Fotoshooting mit der Schönen aus dem Esssaal hätte. Helmut Newton hin oder her. Meine Frau wäre dann so richtig angepisst.

Mein grosser Bruder hatte mir mal erklärt, warum Fotografen eher unsexy wirken. Er meinte, dass das alles Sozialphobiker sind. Typen, die sich hinter ihren Kameras verstecken. Menschen, die Angst vorm richtigen Leben haben und sich deswegen nur mit zweidimensionalen Abbildungen der Realität begnügen.

Andere behaupten, dass Fotografie etwas Beliebiges bekommen hat. Dass mit den Mitteln des Digitalen das Foto seinen Status als Kunstobjekt verliert. Mittels intelligenter Algorithmen und Filter kann heute jeder Depp gute Bilder machen. Ich persönlich finde das nicht schlimm. Im Gegenteil! Dank der digitalen Revolution hat die Fotografie das Elitäre verloren. Digitalkameras und Computer ermöglichen selbst Durchschnittstypen wie mir nette Bildchen zu knipsen. Und natürlich ist das so unsexy und unkreativ wie Mahlen nach Zahlen. Was soll`s. Hauptsache es macht mir Spass.

Aber vielleicht stimmt es ja was mein Bruder sagt. Vielleicht verstecke ich mich hinter meiner Kamera. Und vielleicht bin ich ein Sozialphobiker, dessen Phobie im Zuge der Coronapandemie nun deutlich zu Tage tritt. Während ich darüber nachdenke, mache ich, in einem Akt des Trotzes noch einige Aufnahmen.  Dabei verliere ich meine Frau gänzlich aus den Augen.

Die finde ich auf dem Weg nach Rorschach wieder. Sie steht an einer Kapelle, die in einem verwunschenen Park liegt. Der Ort an sich ist schön. Drum herum erstreckt sich aber die Trostlosigkeit einer Wohnsiedlung. Eine Trostlosigkeit, die sich in Richtung Bodenseeufer weiter steigert. Heruntergekommene Gewerbebetriebe und die Gleise der SBB bestimmen das Bild. Auf einer Brachfläche kämpfen Skulpturen gegen die Tristeste der Umgebung.

An einer schäbigen Wand wirbt eine Privatklinik für Operationen auch in Coronazeiten. Andere Plakate empfehlen zur COVID-Prophylaxe Sport statt Party. Das Virus ist omnipräsent. Auch hier in der Trostlosigkeit dieses Ortes. Die endet vor einem monolithischen Bollwerk aus Glas.

Massiv und standhaft wirkt das Gebäude. Transparent und doch undurchsichtig. Damit spiegelt es die Persönlichkeit des Bauherrn wider. Der heisst Reinhold Würth und in der Presse nennt man ihn den Schraubenkönig. Der Mann hat es zum Milliardär gebracht. Er sammelt Kunst, behält sie aber nicht für sich. Reinhold Würth lässt die Welt an seiner Leidenschaft teilhaben. Unter anderem stellt er seine Kunstgegenstände in diesem Glaspalast aus.

Herr Würth ist Philanthrop und ein bedeutender Förderer der Kultur. Und er ist wegen Steuervergehen vorbestraft. Ob diese Verurteilung rechtmässig ist, weiss man nicht. Würth hat auf die juristische Klärung des Sachverhalts verzichtet.

Das Verfahren, so meint er, hätte viele Jahre gedauert und dem Ruf der Firma geschadet. Die Sache ist so undurchsichtig wie das Glas, dass das Gebäude umgibt. Es spiegelt die Umgebung und zeigt wenig vom Innenleben. Gerne hätte ich eine Ausstellung im Würth-Haus besucht. Aber auf Grund der Coronaproblematik verzichte ich darauf.

Dieser Entscheid macht mich wehmütig und ich streiche mit meinem Fotoapparat um die Skulpturen, die das Gebäude umgeben. Die Kunst hier ist eindeutig teurer als diejenige, die dort drüben im Brachland gegen die Trostlosigkeit kämpft.

Ich denke an den Unternehmer Würth. Er muss eine beeindruckende Persönlichkeit sein. Der damals 14-Jährige Schulabgänger und Lehrling ist heute Ehrendoktor und Professor. Er ist Mitglied der Neuapostolischen Kirche und dennoch ein weltoffener Geist. Und er scheint das Herz am rechten Fleck zu haben. In einer Rede zum Beispiel mahnte er vor einem Rechtsruck in der Gesellschaft. Dabei betonte er die Verpflichtung, Menschen aufzunehmen, die in Sorge um ihr Leben sind. Solche Aussagen sind mir sympathisch.

Unternehmerisch hat Würth Hervorragendes geleistet und den Betrieb seines Vaters gross gemacht. So viel Glück und Geschick haben nicht alle Geschäftsleute. Auf unseren Weg durch den Ort Rorschach wird das deutlich.

Im Ortskern erreicht uns die Tristesse wieder. Die Läden wirken heruntergekommen und einige haben die Corona-Katastrophe nicht überlebt. Ich danke Gott, dass ich einen krisensicheren Job habe. Und dass das ein besonderer Segen ist, führt mir Rohrschach eindrücklich vor Augen.

Die Pest-Epidemien im ausgehenden Mittelalter hatten mit einer Sterblichkeit von dreizig Prozent auch den einen oder anderen zur Geschäftsaufgabe und ins Jenseits gezwungen. Ein ganzer Stand wurde von der Pest in den Abgrund gezogen. Ritter und kleine Adlige hatte die Krankheit um ihre Macht gebracht. Andere konnten aus der Leibeigenschaft in die Stadt fliehen und dort die Lücken besetzen, die die Pest gerissen hatte. Es gab Gewinner und Verlierer.

Wer wird diesmal verlieren? Wer wird gewinnen? Und wie radikal wird das Virus unsere Gesellschaftsordnung verändern? Die Fragen beschäftigten mich, während ich durch den Ort schlendere. Hier in Rohrschach scheint es einige Verlierer zu geben.

Und eine Gesellschaft, die zunehmend aus Verlierern und Gewinnern besteht bereitet mir Sorge. Die ungleiche Verteilung des Wohlstandes, die immer grösser werdende Kluft zwischen Arm und Reich gehört zu den grossen sozialen Herausforderungen unser Zeit. Eine Herausforderung an der Staaten, Gesellschaftssysteme, ja ganze Weltordnungen zerbrechen können. Die Pandemie wird Arme und Reiche noch mehr voneinander entfernen. Und ich befürchte, dass Grossunternehmer wie Reinhold Würth auf diese Problematik nicht adäquat reagieren werden.

Mit einem Gefühl der Beklemmung nehmen wir die Zahnradbahn zurück. Misstrauisch bemühe ich mich um Abstand zu den anderen Fahrgästen. Ein junger Mann verpasst die Abfahrt um Haaresbreite und ich bin froh darum. Früher wäre das anders gewesen. Da hätte ich die Türe blockiert, damit er den Zug noch erreicht.

Das Virus verändert mich und ich möchte Situationen aus dem Weg gehen, in denen diese Veränderungen derart spürbar sind. Es wird also vorerst das letzte Mal sein, dass ich in öffentlichen Verkehrsmitteln reise. Zumindest für lange Zeit.

Am Abend essen wir in dem Lokal von gestern. Wegen des regnerischen Wetters sitzen wir in der historischen Gaststube. Der Raum ist gut belüftet und nur wenige Gäste dürfen ihn besuchen. Das beruhigt mich.

Wie am Vortag geniessen wir braungebratene Fischknusperli, knackigen Salat und weissen Wein. Davor gönnen wir uns einen neckischen Aperitif mit frischen Beeren. Und danach eine köstliche Süssspeise mit einer Tasse schwarzen Kaffee. Auch wenn wir auf den Ort schauen können, scheint hier oben die Rorschacher Tristesse weit weg zu sein.

Aber selbst dieses wunderbare Lokal muss in diesen Zeiten kämpfen. In dem kleinen Familienbetrieb ist alles ziemlich knapp kalkuliert. In einer Krise könnte es da schnell eng werden. Das berichtet uns die Wirtin. Corona ist also auch hier ein Damoklesschwert. Ich hoffe, das Lokal überleben wird. Denn ich freue mich auf einen nächsten Besuch. Vielleicht im Rahmen eines Angelausfluges, denn im Gegensatz zu den deutschen Ufern herrscht hier das Freiangelrecht. Und die Motorrad-Touren durch den schönen Thurgau, das Appenzell und das St. Gallerland sind unbedingt empfehlenswert.

Links

Hotel Schloss Wartensee

Restaurant Windegg

Würth Haus Rohrschach

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